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Demenz vor Alzheimer? Krankheit, Alter und Gehirn in vormodernen Zeiten

Demenz vor Alzheimer? Krankheit, Alter und Gehirn in vormodernen Zeiten. Prof. Dr. Dr. Daniel Schäfer Universität zu Köln Institut für Geschichte und Ethik der Medizin. Themen. Krankheit als Kontinuum in der Geschichte?

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Demenz vor Alzheimer? Krankheit, Alter und Gehirn in vormodernen Zeiten

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  1. Demenz vor Alzheimer?Krankheit, Alter und Gehirn in vormodernen Zeiten Prof. Dr. Dr. Daniel Schäfer Universität zu Köln Institut für Geschichte und Ethik der Medizin

  2. Themen • Krankheit als Kontinuum in der Geschichte? • Medizinhistorische Quellen: Frühneuzeitliche Fallgeschichten (Kasuistiken) • Medizinische Hypothesen zum Alter, zum Gehirn und zum (altersbedingten) Gedächtnisverlust • Ideengeschichtliche Einflüsse auf das materialistische Konzept des geistigen Abbaus • Veränderungen im 18. Jahrhundert

  3. Ziele • Krankheit als naturgebundenes und zugleich gesellschaftlich konditioniertes Phänomen • Erforschung von Krankheit abhängig von Technik, aber auch von persönlichem Interesse und epistemiologischem Kontext • Konzepte von Alter und Gehirn zwischen Physiologie und Pathologie • Medizin in Geschichte und Gegenwart nicht nur durch Erfolge, sondern auch durch Irrtümer und Seitenwege charakterisiert

  4. Alzheimers Entdeckung (1906) Alois Alzheimer(1864-1915) Auguste D.(* 1855)

  5. 1. Kontinuität von Krankheit?Kontext der Altersdemenz um 1900 • Entdeckung und Benennung aufgrund • neuer histologischer Verfahren • neue Forschungsrichtung: neuropathologischer Nachweis lokaler Veränderungen bei psychiatrischen Symptomen • Kampf um wissenschaftliche Reputation und Lehrstühle: 1910: Mentor Emil Kraepelin prägt die Bezeichnung 1912: Alzheimer wird Ordinarius in Breslau

  6. 1. Kontinuität von Krankheit?Alzheimer-Fakten aus heutiger Sicht • Erkrankung des höheren Lebensalters mit exponentiell steigender Inzidenz (>65 alle 5 Jahre Verdoppelung): Hauptrisikofaktor ist das Lebensalter • Heute ca. 1,1 Mio. Demenzkranke in Deutschland, 2050 voraussichtlich 2,3 Millionen • In heutigen Industrieländern sind ca. 70% der Demenzen vom Alzheimer-Typ • Späteres Auftreten in Entwicklungsländern? • Eher natürliche/endogene als soziale Ätiologie?(Gegenbeispiele: Eisenbahn-Krankheit; Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom)

  7. 1. Kontinuität von Krankheit?Aktuelle und historische Demographie • Anteil der Bevölkerung >59 Jahre31.12.2005: 24,91 % (Stat. Jahrbuch BRD 2007)1.12.1900: 7,8 % (Stat. Jahrbuch Dt. Reich 1908)um 1750: 9,9 % (Preußen, n. Süßmilch, 1741)1500-1800: 7 - 10 % (Thane, 2000) • Ursache des Wandels: 1. Veränderter demographischer Aufbau der Bevölkerung (höhere Kinderzahl und –sterblichkeit)2. Geringere Lebenserwartung auch bei Erwachsenen Sterbetafel in Preussen Aus: Süßmilch (1741)

  8. Prävalenz2004 1900 1741in der Altersgruppe BRD Dt. Reich Preußen (2004)(hypothetisch) (hypothetisch)< 65: 0,03 % 20.000 16.000 700 65-69: 1,2 % 62.000 14.000 70070-74: 2,8 % 101.000 22.000 1.10075-79: 6,0 % 180.000 29.000 1.40080-84: 13,3 % 285.000 27.000 1.60085-89: 23,9 % 190.000 13.000 1.20090+: 34,6 % 215.000 3.000 600Summe: 1.053.000 124.000 7.300Anteil an 1,4% 0,2% 0,3 % Bevölkerung von 82,5 Mio. von 56,3 Mio. von 2,4 Mio. Kontinuität von Krankheit?Versuch einer historischen Demographie(unter der Annahme, dass die altersbezogene Prävalenz in der Vergangenheit identisch war)

  9. 1. Kontinuität von Krankheit?Versuch einer historischen Demographie der Alzheimer-Demenz

  10. 1. Kontinuität von Krankheitsbenennung?dementia – eine kurze Begriffsgeschichte • Aulus Cornelius Celsus, De medicina (um 40 n. Chr.): länger anhaltende Sinnestäuschung, z.B. bei Fieber • dementia und amentia als Oberbegriffe für viele Formen geistiger Abnormität: angeborener Schwachsinn Wahnsinn, Delirium … • Frühe Neuzeit: Juristischer Terminus für geistige Unzurechnungsfähigkeit/fehlende Geschäftsfähigkeit • In der Medizin häufig auch bei jüngeren Patienten und akuten Erkrankungen benutzt • Philippe Pinel (um 1800): Abgrenzung der démence senile vom angeborenen Schwachsinn

  11. dementia – eine kurze Begriffsgeschichte „Der Demente ist der Güter beraubt, deren er sich sonst erfreute, er ist ein Armer, der früher reich war … Der Zustand des Dementen kann sich ändern, der des Idioten bleibt immer derselbe.“ Jean Étienne Dominique Esquirol (1838) Aliénation et démence Aus: Esquirol (1838)

  12. 1. Kontinuität von Krankheit?Vorläufige Ergebnisse • Demenz vom Alzheimer-Typ kommt schon allein aus statistischen Gründen in früheren Jahrhunderten auch als „präsenile Demenz“ vor (Alois Alzheimers Benennung!):2004: mehr als zwei Drittel älter als 80 Jahre1900: etwa zwei Drittel jünger als 80 Jahre • Die Prävalenz war vermutlich wesentlich geringer, aber dennoch beachtlich • Der Begriff Demenz ist nicht brauchbar, um Demenzkranke in historischen Quellen zu ermitteln; entscheidend ist die klinische Beschreibung

  13. 2. Frühneuzeitliche Kasuistiken: a) Kurze sporadische Beispiele • Iuvenal, Satura X, zitiert bei Iason Pratensis, De cerebri morbis (Basel 1549): Redner Mesalla Corvinus erkennt „ … weder die Namen der Sklaven noch das Gesicht des Freundes […], mit dem er in der vergangenen Nacht speiste, noch jene, die er zeugte, die er aufzog ...“ • Schenck von Grafenberg, Observationes medicae (Basel 1584): Humanist Francesco Barbaro (1390-1454) und Philosoph Georg von Trapezunt (1395-1472) verlieren in höherem Alter Sprachkenntnisse. • Paolo Zacchia, Quaestiones medico-legales (Leipzig 1630): Goldschmied findet mit über 100 Jahren sein Haus nicht mehr ohne fremde Hilfe.

  14. 2. Frühneuzeitliche Kasuistiken:b) Längere, aber wenig exakte Beschreibung • William Salmon, Iatrica (London 1694): „For Sir John [Roberts of Bromley] was not mad, or distracted like a man in Bedlam, yet he was so depraved in his intellect, that he was become not only a perfect child in understanding but also foolish withall.“ Patient fragt vier- oder fünfmal in einer Viertelstunde:„What´s new in London?“ William Hogarth, A Rake‘s Progress (1735): Szene in Badlam

  15. 2. Frühneuzeitliche Kasuistiken: c) Ausführliche Darstellung des Krankheitsverlaufs Karl Philipp Moritz, GNOTHI SAUTON - Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1785): „… seit ohngefähr 12 bis 15 Jahren hat das Gedächtnis angefangen ihn zu verlassen und dieser Fehler hat von Zeit zu Zeit merklich zugenommen. Sein Gedächtnis nahm endlich, seit fünf Jahren dergestalt ab, dass er unten im Hause schon alles wieder vergessen hatte, was ihm auf der Stube gesagt war ... Doch behielt er dabei noch übrigens immer seinen guten Menschenverstand, sahe auch diesen Fehler selbst ein, und bat immer, dass man nur mit ihm Geduld haben möge. ... und als er nun aus aller Thätigkeit gesetzt wurde, fing sein Verstand an, zu scheitern, und alle seine Seelenkräfte merklich abzunehmen …“

  16. 2. Frühneuzeitliche Kasuistiken: c) Ausführliche Darstellung des Krankheitsverlaufs „… Das Gedächtnis verlässt ihn von Tage zu Tage immer mehr, wobei jedoch das etwas Auffallendes ist, dass er sich solcher Dinge, die vor 30 bis 40 Jahren geschehen, und besonders ihm selbst wiederfahren sind, noch recht gut erinnert ... Seit einem Jahr hat er sich den unglücklichen Gedanken im Kopf gesetzt, dass er geschlachtet und aus seinem Fleische Würste gemacht werden sollten.“ • Klinische Beschreibung: • Fortschreiten des geistigen Abbaus • längerer Erhalt des Langzeitgedächtnisses • anfängliche Selbstvergegenwärtigung der Ausfälle • zu wahnhaften Angstzuständen führende Desorientierung • Verlust der Arbeit als soziale Folge der Altersdemenz (ein normales Rentenalter gab es damals nicht)

  17. 2. Frühneuzeitliche Kasuistiken: Darstellung in Belletristik “For the same Reason they [the Struldbrugs] never can amuse themselves with reading, because their Memory will not serve to carry them from the Beginning of a Sentence to the End; and by this Defect they are deprived of the only Entertainment whereof they might otherwise be capable.”(Gulliver´s Travels II 10; 1723) Szene aus „Gullivers Reisen“ Jonathan Swift (1667-1745) Totenmaske

  18. 2. Frühneuzeitliche Kasuistiken:Vorläufige Ergebnisse • Sporadische Fallgeschichten in Fachprosa und Belletristik • Zunehmende Ausführlichkeit und Häufigkeit der Berichte im 18. Jahrhundert • Befund ist erklärungsbedürftig  Suche nach Konzepten für Altersvergesslichkeit in Antike und Früher Neuzeit

  19. 3. Überlieferte medizinische Konzepte zu (Alters-)Vergesslichkeit und Demenz • Spekulative Pathophysiologie zu Gedächtnisverlust und Geisteskrankheit aus der Antike: • Galen, De locis affectis III 5-7; Quod animi mores corporis temperamenta sequantur 5: Ursache ist „Kälte“ der Greise • Aretaios von Kappadozien, De causis et signis morborum chronicorum I 6 (De mania): Unterscheidung zwischen „heißem“ Wahnsinn und „kalter“ Demenz • Caelius Aurelianus, Celeres passiones II 1-55 (De lethargia): Krankheit der Alten mit Fieber, Betäubung und Vergessen  Vergesslichkeit ist Folge einer Dyskrasie des Gehirns: zu „kalt“, zu „feucht“ (seltener: zu „trocken“); wird nur selten auf das Alter bezogen

  20. 3. Überlieferte medizinische Konzepte zu Vergesslichkeit und Demenz Spekulative Systematik des Gedächtnisses in der altgriechischen „Psychologie“ sowie der mittelalterlichen Naturphilosophie: • Gedächtnis als Funktion verschiedener Seelenanteile: • Empfindende Seele (Anima sensitiva; sterblich, bei Tier und Mensch): Unwillkürliches Erinnern durch externen Stimulus • Vernunftseele (Anima rationalis; unsterblich?, nur bei Mensch): Bewusstes Erinnern ohne äußeren Anlass

  21. 3. Überlieferte medizinische Konzepte zu Vergesslichkeit und Demenz • Spekulative Morphologie in der altgriechischen Naturphilosophie (Aristoteles, Platon): • Geistige Funktionen benötigen materielle Grundlagen (Sinnesorgane, -verarbeitung) • Gedächtnis und Erinnerung entstehen durch Impressionen (Ein-Drücke); bei zu harter oder zu feuchter (Gehirn-)Substanz sind sie nicht möglich.

  22. 3. Tradierte medizinische Konzepte zu Vergesslichkeit und Demenz • Mittelalterliche Lokalisationstheorien: Gehirnventrikel als morphologische Grundlagen geistiger Funktionen • Kleinhirnwurm als mechanisches Ventil für Gedächtnisleistungen (Costa ben Luca, 9. Jhd.) Aus: Lokhorst/Kaitaro, JHNS 10 (2001), p. 15 Kopf bei Erinnerung erhoben Kopf beim Denken gesenkt

  23. 3. Zeitgenössische medizinische Diskussion in „geriatrischen“ Schriften • Fehlende Erwähnung unter den typischen Alterskrankheiten (Hipp. Aph. III 31; Koh. 12,1-4) verhindert lange Zeit eine ausführliche Diskussion von Altersvergesslichkeit in frühneuzeitlichen Texten • Alter entsteht durch natürliche Abnahme der Lebenswärme und –feuchtigkeit und ist keine Krankheit  Unterscheidung zwischen physiologischen Alterssymptomen und pathologischen Alterskrankheiten

  24. 3. Zeitgenössische medizinische Diskussion in „geriatrischen“ Schriften • Seltenes Beispiel für Diskussion in „geriatrischen“ Schriften: Aurelio Anselmi, Gerocomica (Venedig 1606), Kap. De phrenitide/De lethargo: • Altersphysiologische Ätiologie („Kälte“, extrinsische „Feuchtigkeit“ im Gehirn) • Diätetische Ätiologie • Entsprechende therapeutische Empfehlungen: „Wärmende“ Lebensmittel und Drogen, Gedächtnistraining, kein Koitus

  25. 3. Zeitgenössische medizinische Diskussion über Altersvergesslichkeit und Demenz Widersprüchliche Rezeption der Antike: • Sapientia in sicco residet: Substanzielle Trockenheit des Gehirns (physiologisch im Alter) befördert die Altersweisheit. • Seltene Gegenmeinung: Vergesslichkeit entsteht durch Austrocknung des Gehirns; dies wird allerdings im 18. Jahrhundert zur Leitidee.

  26. 3. Zeitgenössische medizinische Diskussion über Altersvergesslichkeit und Demenz • Vergesslichkeit als Leitsymptom des Alters: „Haus der Vergesslichkeit“, nach Haly Abbas  Heinrich Stromer (von Auerbach) • Frühsymptom des Alterns (Seneca d.Ä., Galen) oder Zeichen höchsten Alters? Weitere Details in medizinischen Texten: • Der „kindische Greis“ (Platon: Bis pueri senes): Kinder und alte Menschen sind vergesslich, weil sie zu „feucht“ sind; beide haben von Natur aus einen Status zwischen Krankheit und Gesundheit (senectus est defectus) Heinrich Stromer (1476-1542)

  27. 3. Zeitgenössische medizinische Diskussion Vorläufige Ergebnisse • Altersvergesslichkeit wird in Fachtexten als Symptom des natürlichen Alterns erwähnt, sporadisch auch als therapiebedürftiges Altersleiden • Eine mögliche Ursache für die fehlende Diskussion ist die fehlende Tradition; lediglich außerhalb der „Geriatrie“ gibt es altersunspezifische Konzepte für Vergesslichkeit • Gibt es weitere Faktoren außerhalb der Medizin, die die Wissenslücke erklären?

  28. 4. Ideengeschichtlicher Einfluss • Platon (4. Jhd. v. Chr.): Seele ist unsterblich und verlässt den alten Körper nach dem Tod • Cicero, Cato maior De senectute (44 v. Chr.): Lob der geistigen Fähigkeiten alter Menschen • Christliche Theologie: Unsterbliche Seele kommt von Gott und kehrt zu ihm zurück • Jacques Lefèvre (Paris 1512): „Das Alter ist keine Krankheit der Seele.“ Alte Menschen sind weise Staatsmänner, weil sie Erfahrung akkumulieren und ihre Seele im Unterschied zum Körper nicht altert Jacques Lefèvre (1450-1536)

  29. 4. Ideengeschichtlicher Einfluss Frühneuzeitliche konfessionelle Unterschiede in der Beurteilung der geistigen Fähigkeiten alter Menschen: • Katholische Theologen (z.B. Gabriele Paleotti) mieden in Schriften über das Alter Hinweise auf Geistesschwäche, weil die unsterbliche Seele von Gott stamme und alterslos sei. • Für protestantische Theologen (z.B. Martin Luther) war ein intellektueller Abbau im Alter nicht undenkbar, weil Leib und Seele vergäng-lich sind und allein der Geist unsterblich ist.

  30. 4. Ideengeschichtlicher Einfluss Bis etwa 1650 unausgesprochener Konflikt zur materialistischen Medizin und Naturphilosophie: • lokalisieren seit der Antike zumindest Teile des Gedächtnisses im Gehirn • verstehen Seelenvermögen (insbesondere Anima sensitiva) als abhängig von Körperfunktionen; Beispiel: „Ein voller Bauch studiert nicht gern.“ • Problem: Keine scharfe Abgrenzung zwischen medizinischem und theologischem Seelenbegriff

  31. 4. Ideengeschichtlicher Einfluss Möglicher Kompromiss in der frühneuzeitlichen Medizin zwischen materialistischer und idealistischer Seelenlehre: Anima rationalis ist nur sekundär vom Niedergang der „inneren Sinne“ („niederen Seelenvermögen“) betroffen. • Wahnsinn, Gedächtnisverlust und Demenz sind zwar möglich, aber nur als Folge körperlicher Schwäche; es gibt keine „psychischen Erkrankungen“ im engeren Sinne

  32. Mögliche Gründe für die spärliche Diskussion von Altersdemenz in der frühneuzeitlichen Medizin 1. Selteneres Vorkommen in der Bevölkerung aufgrund niedrigerer Lebenserwartung 2. Fehlende fachliterarische Tradition zu dieser Sonderform von Vergesslichkeit; 3. Unzureichende physiologische und morphologische Kenntnisse über das Gehirn; 4. Konflikt zwischen idealistischer und materialistischer Sichtweise der Seelenfunktionen und deren Zustand im Alter.

  33. 5. Veränderung medizinischer Konzepte nach 1650: Der Einfluss von Descartes • Cartesianische Naturphilosophie lehrt scharfe Trennung von Leib und Seele: • Gehirn ist eine Maschine, die auch ohne Seele funktioniert (Reflexbogen). • Seele (res cogitans) ist kein Gegenstand der experimentellenNaturwissenschaft • (Seele existiert nicht)

  34. 5. Veränderung medizinischer Konzepte nach 1650: Der Einfluss von Descartes • Wiederaufgreifen der zwei Gedächtnisformen: • Mémoire corporelle (unwillkürliche Erinnerung) entsteht mechanisch durch den Abfluss von Nerven-flüssigkeit der Zirbeldrüse über Röhrchen des Gehirns (Lochbildung). • Willkürliche Erinnerung geschieht durch immaterielle Seele, die ebenfalls über die Zirbeldrüse auf Gedächtnisspuren zurückgreifen kann. René Descartes, L´Homme(1632/Paris 1664)

  35. 5. Veränderung medizinischer Konzepte nach 1650: Streit um die „alternde Seele“ • François Ranchin, Gerokomike (Montpellier 1632): „Es altert nämlich die Seele mit dem Leib.“ • Jacques Gavois/Claude Perrault: An ut corporis sic animae senectus? (Paris 1639): „Nicht wie der Körper altert die Seele“. • John Smith, The Pourtract of Old Age (London 1666): Seele ist im Alter eine Tabula derasa. Allmählicher Abschied vom Gehirn als Seelenorgan

  36. 5. Veränderung medizinischer Konzepte nach 1650: Neue Morphologie des Gedächtnisses • Thomas Willis: Sitz des Gedächtnisses ist überwiegend die Hirnrinde (nicht mehr Ventrikel) • Neues cartesianisches Konzept vom Altern (Iatromechanik): Körper ist eine sich abnützenden Maschine; Gedächtnisschwäche ist Folge einer herabgesetzten Schwingungsfähigkeit verhärteter Nervenfasern Thomas Willis (1621-1675)

  37. Veränderung medizinischer Konzepte nach 1650: Ausblick • Romantische Medizin um 1800: Schwinden der „Seele“ verursacht körperlichen Verfall; „moralische Therapie“ psychischer Erkrankungen • Naturwissenschaftliche Medizin seit 1840: „Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten“ (Wilhelm Griesinger).Demenz muss im Gehirn nachweisbare Spuren hinterlassen  Alois Alzheimer

  38. Zusammenfassung: Demenz vor Alzheimer … • … gab es mit großer Wahrscheinlichkeit, auch wenn Kasuistiken keinen Beweis liefern • … zeigt exemplarisch die Abhängigkeit medizinischer Vorstellungen von nicht-medizinischen Einflüssen • Darstellungen und Modelle orientieren sich an zeitgenössischen Konzepten von Altern und Gehirnfunktionen

  39. Zusammenfassung: Demenz vor Alzheimer offenbart … • Einfluss vormoderner materialistischer Hirnbiologie: Verbindung von Sinneseindruck, Gedächtnis und Erinnerung; morphologisch fassbare Erinnerungsvorgänge und Gedächtnisspuren im Gehirn • Einfluss vormoderner Psychologie: Trennung zwischen verschiedenen Gehirnfunktionen und Zuordnung zu unterschiedlichen „Seelenanteilen“

  40. Zusammenfassung: Wissenschaftshistorischer Kontext frühneuzeitlicher Altersdemenz • Frühe Biologisierung höherer Hirnfunktionen um 1700 unter Abspaltung psychologischer und Ausblendung metaphysischer Konzepte leitet Siegeszug moderner Hirnforschung ein.

  41. Zusammenfassung: Ethische Dimensionen frühneuzeitlichen Umgangs mit Altersdemenz • Dominanz der Ideale („alterslose Seele“) verstellte teilweise den Blick auf die Realität, „weil, so schloss er messerscharf,nicht sein kann, was nicht sein darf!“ (Ch. Morgenstern) • Medizinische Enttabuisierung und Somatisierung der Demenz bergen umgekehrt die Gefahr, personale und moralische Dimensionen der chronischen Krankheit im Sinne einer Lebensphase auszublenden.

  42. Demenz vor Alzheimer?Krankheit, Alter und Gehirn in vormodernen Zeiten Prof. Dr. Dr. Daniel Schäfer Universität zu Köln Institut für Geschichte und Ethik der Medizin

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