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"Risikofaktor Jugend?" Fachveranstaltung und Jubiläumsfeier zum 21-jährigen Bestehen

"Risikofaktor Jugend?" Fachveranstaltung und Jubiläumsfeier zum 21-jährigen Bestehen des Kontakt e.V., 15.06.2006, Alfeld. Bildquelle: [http://www.ev-ref-jugend.de/inhalt/Treffs/Hinte2.jpg]. Prof. Dr. habil. Dietmar Sturzbecher Burgwall 15, 16727 Oberkrämer Internet: www.sturzbecher.de

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"Risikofaktor Jugend?" Fachveranstaltung und Jubiläumsfeier zum 21-jährigen Bestehen

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  1. "Risikofaktor Jugend?" Fachveranstaltung und Jubiläumsfeier zum 21-jährigen Bestehen des Kontakt e.V., 15.06.2006, Alfeld Bildquelle: [http://www.ev-ref-jugend.de/inhalt/Treffs/Hinte2.jpg] Prof. Dr. habil. Dietmar Sturzbecher Burgwall 15, 16727 Oberkrämer Internet: www.sturzbecher.de Mail: dietmar@sturzbecher.de

  2. Teil 1: RisikoDas Risiko hat viele Gesichter! • „Wer Pech hat, verbringt den Rest seines Lebens im Rollstuhl.“(„Der Tagesspiegel“, 13.06.2006) • „Einfache Anweisungen zur Risikomeidung sind genauso, wie Kolumbus zu sagen, er solle zu Hause bleiben“ (Frank H. Farley) • Teenager müssten die besten Autofahrer der Welt sein: Die Wahrnehmung besitzt in diesem Alter die höchste Leistungsqualität; die Reflexe Jugendlicher sind verglichen mit älteren Menschen schnell … •  Jedoch kommen Jugendliche häufiger bei Autounfällen als durch irgendeine andere Ursache ums Leben: Das Risiko eines 18- bis 20-Jährigen, bei einem Autounfall zu sterben, ist ungefähr 6x so hoch wie das eines 25- bis 64-Jährigen.

  3. Denken Jugendliche anders? • Risikoverhalten als Folge kognitiver Defizite  „Adolescenter Egozentrismus“ (David Elkind) • Theorie („Schöne wissenschaftliche Vision“): 1. Jugendlichen erleben sich als „einzigartig“ („Personal Fable“); sie überschätzen sich und schwelgen in Illusionen. 2. Jugendliche nehmen an, dass sie „unverwundbar“ seien („Invincibility Fable“). Sie erwarten keine Negativfolgen (Antizipationsdefizite), weil ihnen Erfahrungen mit Negativerlebnissen fehlen. 3. Jugendliche projizieren ihre Gedankenwelt auf andere und gehen davon aus, dass sie sich ständig vor einem Publikum produzieren müssten („Imaginary Audience“). • Praxis („Hässliche Fakten“):  Hoher Egozentrismus korrespondiert mit Risikoscheu (Dolcini et al., 1989).  Jugendliche scheuen manches Risiko, dass Erwachsenen akzeptabel erscheint (Wavering, 1984); auch ältere Menschen übernehmen erstaunliche Risiken. • Elkinds Präventionsempfehlung: Berufsausbildung (Erlernen vorgegebener Handlungsabläufe) und Partnerschaft (Erfahren ähnlicher Lebenswelten) David Elkind Quellen: Elkind, D. (1967). Egocentrism in adolescence. Child Development, 38, 1025-1034. Dolcini, M.M., Cohn, L.D., Adler, N.E., Milstein, S.G. et al. (1989). Adolescent Egocentrism and feelings of invulnerability: Are they related?. Journal of Early Adolescence, 9, 409-418. Wavering, M. (1984). Interrelationships among Piaget´s formal operational schemata: Proportions, probability, and correlation. Journal of Psychology, 118, 57-64.

  4. Verarbeiten Jugendliche Informationen anders? • Risikoverhalten als Informationsverarbeitungsdefizit  „A Decision-Making Perspective“ (L. Furby & R. Beyth-Marom) • Theorie:  Jugendlichen könnten folgende Informationsverarbeitungsschritte Probleme bereiten: - das Identifizieren möglicher Optionen und Konsequenzen, - das Bewerten der Wünschbarkeit und Wahrscheinlichkeit der Konsequenzen, - das Zusammenführen aller Informationen zu einer Entscheidung. • Praxis:  Die Forschungsergebnisse sind nicht eindeutig und hängen von den Entscheidungsinhalten (z.B. in Hinblick auf Schwangerschaftsverhütung oder Verkehrsrisiken) ab.  Zwar scheint es keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen Jugendlichen und Erwachsenen beim Ablauf von Entscheidungsprozessen zu geben; Jugendliche neigen aber eher dazu, die Langzeitfolgen von Entscheidungen zu unterschätzen. Ruth Beyth-Marom Quelle: Furby, L. & Beyth-Marom, R. (1992). Risk taking in adolescence: A decision making perspective. Developmental Review, 12, 1-44.

  5. Haben Jugendliche eine andere „Biologie“? (1) • Theorie (Zuckerman, 1979):  Sensation Seeking ist das Suchen von abwechslungsreichen, neuartigen, komplexen und starken Empfindungen sowie Erfahrungen und die Bereitschaft, physische, soziale, rechtliche und finanzielle Risiken dafür in Kauf zu nehmen“.  Die Tendenz zum Sensation Seeking zeigt sich bereits im Explorationsverhalten von Kleinstkindern. Quelle: Zuckerman, M. (1979). Sensation seeking: Beyond the optimal level of arousal. Erlbaum, Hillsdale, NY.

  6. Haben Jugendliche eine andere „Biologie“? (2) • Ergebnisse (Zuckermann, 1994; Ruch & Zuckermann, 2001): •  Reizsuche-Tendenz ist zu 50% bis 60% genetisch verankert. •  Das Risikoverhalten und die SSS-Werte sind mit 16 Jahren • am höchsten, Jungen erreichen deutlich höhere Skalenwerte. • Arnett (1992) verbindet die vorgestellten Ansätze zu einer • „Entwicklungstheorie des jugendlichen Leichtsinns“ („Reckless Behavior“). •  Alle Formen jugendlichen Leichtsinns unterliegen gleichen, jugendtypischen Faktoren wie Sensationssuche und kognitiver Egozentrismus sowie einem damit verbundenen Mangel an verhaltensleitenden Wertorientierungen (Arnett & Balle-Jensen, 1993) . • Grenzen (Schneider & Rheinberg, 1996): •  Obwohl „Sensation Seeking“ Bezüge zu kognitiven Aspekten • aufweist, werden diese in den Definitionen von SS nicht • explizit genannt. Ebenso bleiben Sozialisationskontexte und • Leistungskomponenten unberücksichtigt. Marvin Zuckerman Quellen: Zuckerman, M. (1994). Behavioral Expressions and Biosocial Bases of Sensation Seeking. Cambridge: University Press. Ruch, W. & Zuckerman, M. (2001). Sensation seeking in adolescents. In J. Raithel (Hrsg.), Risikoverhaltensweisen Jugendlicher. Erklärungen, Formen und Prävention. Opladen: Leske + Budrich, 97-110. Arnett, J. (1992). Reckless behavior in adolescence: A developmental perspective. Developmental Review, 12, 339-373. Arnett, J. & Balle-Jensen, L. (1993). Cultural bases of risk behavior: Danish adolescents. Child Development, 64, 1842-1855. Schneider, K. & Rheinberg, F. (1995). Erlebnissuche und Risikomotivation. In M. Amelang (Hrsg.), Interindividuelle Unterschiede: Temperament und Persönlichkeit. Enzyklopädie der Psychologie, (C/VIII/Bd. 3, S. 407-439). Göttingen: Hogrefe. Jeffrey J. Arnett

  7. Und warum macht Risikoübernahme in der Gruppe am meisten Spaß? • „Risky Shift“ Phänomen: Gruppen, die nach individuellen Beurteilungsprozessen anschließend über die Entscheidung diskutieren und diese zusammen abgeben, zeigen einen signifikanten Trend zu riskanteren Entscheidungen (Stoner, 1968). Der „Risikoschub“ tritt in männlichen wie auch weiblichen Gruppen gleichermaßen auf. • Als Erklärung für dieses Verhalten werden vier Faktoren genannt:  Diffusion der Verantwortung: Das Individuum „versteckt “ sich hinter der Gruppe. Alle haben die Entscheidung und somit auch die Folgen zu verantworten.  Informationsniveau: Durch die erhöhte Anzahl an Argumenten und Sichtweisen entsteht der subjektive Eindruck, alles objektiver bedacht zu haben.  Führerschaft: Eine risikofreudige Führerfigur lässt verstärkende Risikoargumente eher zu und verstärkt diese.  Statusgewinn: Die gezeigte Risikobereitschaft kann den Status innerhalb der Gruppe heben und zu einem Verlassen gewohnter Positionen verführen. • Damit wäre unsere Ursachenanalyse am Ende, gäbe es nicht neuere neuropsychologische Befunde zur Risikoübernahme. Quelle: Stoner, J.A.F. (1968). Risky and cautious shifts in group decisions: The influence of widely held values. Journal of Experimental Social Psychology, 4, 442-459.

  8. Wissenschaft als Abenteuer und Risiko • Cavendish, Neuengl., 13.09.1848, Explosion auf der Green Mountain Rail Road: Eine 1m lange und 3cm dicke Eisenstange schoss dem Bahnarbeiter Phineas Gage durch die Stirn und sein linkes Auge und den linken Teil des Frontalhirns. Zunächst schien es, als hätte Gage Glück gehabt. Der behandelnde Arzt notierte aber später: „Es scheint, als seien seine intellektuellen Fähigkeiten und seine animalischen Neigungen aus dem Gleichgewicht geraten ... Er ist unbeständig und respektlos, ... zeigt keinerlei Achtung gegenüber seinen Mitarbeitern.“  „Er ist ungeduldig, ... ungeheuer starrsinnig, ... unberechenbar ... Er hat viele Pläne, die er aber sofort wieder aufgibt, um neue zu entwickeln, die ihm sinnvoller erscheinen.“  Gage wurde zum Widerling und hatte den Sinn für Risiken vollständig verloren. Quellen: Raine, A. (1999). Murderous minds: Can we see the mark of Cain? Cerebrum 1, 15-30. Raine, A. (2002). Annotation: The role of prefrontal deficits, low autonomic arousal, and early health factors in the development of antisocial and aggressive behavior. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 43, 417-434. Raine, A. (2002). Biosocial studies of antisocial and violent behavior in children and adults: A review. Journal of Abnormal Child Psychology, 30, 311-326.

  9. Jugendliche denken doch anders! • Neuere Untersuchungen, z.B. mithilfe der Magnetresonanztomographie (MRT) zeigen, dass die Gehirnentwicklung nicht mit dem Kindesalter abgeschlossen ist. Insbesondere im Vorderhirn dauern Reifungsprozesse noch während des Jugendalters an:  Das Volumen an „grauer Substanz“ im Vorderhirn wächst bis zum Alter von 12 Jahren und nimmt dann während des ganzen Jugendalters ab. Dies erfolgt durch die Stärkung von häufig genutzten Nervenverbindungen und das Absterben selten genutzter Nervenverbindungen.  Durch diese Formungsprozesse wird die Verarbeitungsaktivität im Vorderhirn effizienter und fokussierter. Außerdem spielt das Vorderhirn eine wachsende Rolle bei der Kontrolle von Aktivität in anderen Hirnregionen („Frontalisierung“). • Gerade die Hirnregion, die unter anderem für die Verhaltensplanung, Entscheidungs-findung, Impulskontrolle und Risikoeinschätzung verantwortlich ist, befindet sich während des Jugendalters also in einer Phase massiver Veränderungen. • Die Erfahrungen während dieser Phase und die daraus resultierenden Anpassungs-leistungen im Gehirn sind weit über das Jugendalter hinaus verhaltenssteuernd.  Achtung: Dies ist keine Entschuldigung, sondern begründet besonderen Betreuungsbedarf. Quellen: Chugani, H. (1998). Biological Basis of Emotions: Brain Systems and Brain Development. Pediatrics, 102, 1225-1229. Rubia, K. et al. (2000). Functional Frontalisation with Age: Mapping Neurodevelopmental Trajectories with fMRI. Neuroscience Beh. Rev., 24, 13-19.

  10. Jugendliche denken doch anders! (Ergänzung) Erklärungswert neuropsychologischer Ansätze für Risikoverhalten von Jugendlichen: • Die neurobiologischen Besonderheiten in den Gehirnen Jugendlicher korrespondieren mit experimentell nachgewiesenen Verhaltensunterschieden zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, da sich genau diejenigen Hirnregionen im Reifungsprozess befinden, die mit den Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung gebracht werden. • Entscheidungen von Jugendlichen scheinen eher auf der Erwartung einer kurzfristigen Belohnung zu beruhen als auf der Erwartung langfristiger Vorteile. Der Grund dafür könnte in der Hyperaktivität des Belohnungssystems im jugendlichen Gehirn liegen, wie sie mithilfe funktioneller MRT nachgewiesen werden konnte. Dies bedeutet, dass Jugendliche sensibler auf Belohnungsreize ansprechen, vor allem wenn diese neu sind. • Die durch die beschriebenen Hirnreifungsprozesse hervorgerufenen Verhaltens- tendenzen Jugendlicher haben einen evolutionären Nutzen, da sie es Jugendlichen z.B. ermöglichen, ihre Familien zu verlassen, ohne sich darüber große Sorgen zu machen. • Die mangelnde Voraussicht der Konsequenzen des eigenen Verhaltens ist aber sicherlich auch durch Erfahrungsmangel mit bedingt. Erst durch Erfahrung lernen Jugendliche, die Konsequenzen ihres Verhaltens und damit auch Risiken realistischer einzuschätzen. Quelle: Beckman, M. (2004). Crime, Culpability, and the Adolescent Brain. Science Magazine, 305, 596-599.

  11. Jugendliche fühlen auch anders! • Risikoverhalten als Folge unzureichender Affektregulation • Experiment:  Eine Forschungsgruppe der Uni Jena induzierte Jugendlichen positive, neutrale und negative Affekte (durch das Zeigen von Bildern und das Abspielen von Musik) und untersuchte dabei ihr Risikoverhalten. • Einige Forschungsbefunde:  Silbereisen et al. (2006) stellten fest, dass affektive Zustände tatsächlich die Risikoeinschätzungen und das Risikoverhalten bei Jugendlichen, nicht aber bei jungen Erwachsenen beeinflussen.  Die Jenenser Forscher konnten diesen Effekt für folgende Risikosituationen zeigen: mit einem angetrunkenen Fahrer im Auto mitfahren, rauchen und Alkohol trinken.  Außerdem fanden sie Hinweise darauf, dass alterskorrelierte Impulsivitätsunterschiede diesem Muster zu Grunde liegen. • Prävention: Graue Brille?, I-Pod wegnehmen? Rainer K. Silbereisen Quelle: Fröhlich, C., Haase, C. M., & Silbereisen, R. K. (2006, March). Affective influences on risk decision-making in adolescence and young adulthood. To be presented at the 11th biennial meeting of the Society for Research on Adolescence, San Francisco, CA.

  12. Und warum sind Ältere auch leichtsinnig? Risikoübernahme ist zunächst irrational: • „Zunächst wird jede Entscheidungssituation unbewusst eingeschätzt. Das passiert in den so genannten limbischen Zentren.“  Diese Orte speichern individuelle Lebenserfahrungen, deren Entstehen der Mensch meist nicht bewusst zu erinnern vermag: das wohlige Gefühl beim Duft von nassem Waldboden, die Angst vor dunklen Schränken ...  Bei diesem ersten Check bewertet innerhalb weniger Millisekunden der ‚Bauch des Gehirns’ die Situation. Er ist die erste Instanz.“ • In einem zweiten Schritt prüft das Frontalhirn die Handlungsoptionen und ihre Folgen. „Hier wird rational abgeschätzt, ob es nicht trotz möglicher Gefahren sinnvoll sein kann, in den Wald hineinzugehen ... Erst jetzt setzt der bewusste, logische Entscheidungsprozess ein.“ • Schon während der ersten Stufe entwickelt sich eine sehr deutliche Tendenz: Eine unbewusst als richtig beurteilte Strategie kann wesentlich schlechter durch rationale Erwägungen überstimmt werden als eine, die bereits im Vorfeld abgelehnt worden ist (Damasio, 1995)!  Dies hat Folgen sowohl für die Aggressionsregulation als auch für die Risikoübernahme! Quellen: Roth, G. (2005). Wie unser Gehirn Entscheidungen trifft. [Online], 2 Seiten. Verfügbar unter: http://www.zfu.ch/service/fartikel/fartikel_03_jub.html. Damasio, A.R. (1995). Neurobiology of decision making. Berlin: Springer.

  13. Teil 2: Einige Thesen zur Prävention „Wir sparen nicht an der Prävention, sondern mit Prävention.“ (Christian Wulff)

  14. These 1: Prävention muss sich an Entwicklungsaufgaben orientieren und dabei möglichst früh einsetzen! • Entwicklungsaufgaben begründen besonderen Betreuungsbedarf:  Entwicklungsaufgaben beziehen sich auf eine bestimmte Lebensperiode und müssen gelöst werden, um individuelle Entwicklungsbedürfnisse und gesellschaftliche Entwicklungsanforderungen zu erfüllen.  Typische Entwicklungsaufgaben für Jugendliche: Berufsrolle, Partner- und Familienrolle, Kultur- und Konsumentenrolle sowie politische Bürgerrolle übernehmen.  Männer haben es schwerer als Frauen, Verluste in einer Rolle durch Gewinne in anderen Rollen auszugleichen! • Neuartige Entwicklungsaufgaben müssen bei Übergängen im Lebenslauf bewältigt werden, sind vorauszusehen und fordern Prävention:  Transitionen unterbrechen den Lebensverlauf, lösen Individuen/Systeme aus Zusammenhängen und erfordern eine Reorganisation des Lebens.  Transitionen verändern Rollen, Beziehungen und Identitäten; sie führen zu einer veränderten Selbst- und Umweltwahrnehmung sowie zu einem emotionalen Ungleichgewicht.  Typische Transitionen: Familie/Kindergarten …; Schule/Beruf/Ruhestand.

  15. These 2: Prävention darf biologische und soziale Entwick- lungsbedingungen nicht vernachlässigen! (1) • Es gibt 5 Faktorengruppen, die Aggressivität fördern (Coie & Dodge, 1998): (1) genetische Faktoren: Temperament, Hyperreaktivität, Aufmerksamkeitsdefizite, …; (2) biologische Faktoren: Hirnschädigungen, Herz- und Kreislaufprobleme, …; (3) ökologische Faktoren: Armut, gewaltdefinierte Subkulturen, Familienstressoren ...; (4) soziale Faktoren: sozialer Druck in Gewaltgruppen, Zurückweisung durch peers in jungen Jahren, Opferstigmatisierung; (5) familiale Frühsozialisation: emotional arme Eltern-Kind-Beziehungen, verbunden mit Zwang sowie inkonsistenten harten Strafen, führen zur Verstümmelung der sozialen Intelligenz.  „Soziale Lerntheorie“ und „Soziokognitiver Ansatz“ als theoretische Modelle • Misshandlung (Demütigung und Abbau sozialer Responsivität statt Geborgenheit):  17,8% der 12- bis 18-jährigen Schuljugendlichen in Brandenburg wurden von Vater oder Mutter oft oder manchmal geschlagen, davon 4,2% von beiden Eltern.  Der Anteil der restriktiven Eltern ist sehr stabil; die Verhaltensmuster der restriktiven Eltern auch (Sturzbecher, 2002, retrospektive Befragung). Quellen: Coie, J. & Dodge, K. (1998). Aggression and antisocial Behavior. In W. Damon & N. Eisenberg. Handbook of Child Psychology. Vol 3. New York: John Wiley & Sons, Inc. Sturzbecher, D. (Hrsg., 2002). Jugendtrends in Ostdeutschland: Bildung, Freizeit, Politik, Risiken. Opladen: Leske + Budrich.

  16. These 2: … Präventionschancen (2) • Ausgangspunkt: Misshandlungen resultieren in der Regel nicht aus psychisch kranken Elternpersönlichkeiten, sondern aus situativem Stress und sozio-kognitiven Defiziten, nicht selten gepaart mit akzeptablen Erziehungsabsichten (Emery, 1989)!  Prügelnde Eltern haben oft geringe Kenntnisse über Kinderbetreuung und attribuieren dem Kind unzutreffende Verhaltensmotivationen; sie sind überfordert, aber erziehungswillig (deshalb wird Kindesmisshandlung innerfamilial tradiert, Partnermisshandlung kaum). • Pauls & Johann (1984) sowie 15 Jahre später Hermens & Tietjen (2000) haben das Steuerungsverhalten 8- bis 12-Jähriger gegenüber ihren Eltern erfasst:  Problematische Steuerungsformen wie - Steuerung durch Ignorieren („Ich lass’ die Alten reden und trödele rum.“), - Steuerung durch Entwertung und Vorwürfe („Ihr seid gemein!“; Schimpfwörter), - Steuerung durch Opposition (öffentlicher Wutanfall), - Steuerung durch Bestrafung (Kaputtmachen, körperliche Gewalt) wurden in der Folgeuntersuchung häufiger gewählt (Generationsunterschied);  neue Steuerungsformen traten auf („Eltern austricksen“, „Ausweichen auf Oma“). Quellen: Emery, R. E. (1989). Family violence. American Psychologist, 44, No.2, 321-328. Pauls, J. & ­Johann, A. (1984). Wie steuern Kinder ihre Eltern? Psychologie in Unterricht und Erziehung, 31, 22-32. Hermens, A. & Tismer, K.-G. (2000). Wie steuern Kinder ihre Eltern?: Die Replikation einer Fragebogenaktion von Pauls und Johann (1984) bei 371 acht- bis zwölfjährigen Kindern. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 47 (1), 29-45.

  17. These 3: Prävention muss künftig immer stärker auf Überzeugung (und Unterhaltung) setzen! • Eltern wollen nicht erziehen (Ahrbeck, 2005) oder übertreiben dabei: 1. Angst vor „Autoritätsschäden“: Seit 1968 werden Erziehungstraditionen in Frage gestellt; Eltern fürchten, die inneren Entwicklungspotentiale und Selbststeuerungskräfte von Kindern durch (autoritäre) Erziehung zu schädigen. 2. Konstruktivistische Entwicklungstheorie: Die Leitidee vom Kind, das sich selbstständig seine Umwelt aneignet, vermittelt den Eindruck, dass Kinder kompetent genug seien, ihren Alltag eigenverantwortlich zu meistern (die kindliche Medienkenntnis und Computerbeherrschung verstärkt diesen Eindruck). 3. Fehlende Problemlösemodelle für die Zukunft: Es gibt einen schnellen und starken Wandel der Lebensanforderungen und Werte; dieser Wandel führt zu Unsicherheit und Orientierungslosigkeit hinsichtlich der Erziehungsziele (Mead, 1973). 4. Bequemlichkeit: „Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts.“ (Fröbel, 1837); beides ist anstrengend, kostet Zeit und erfordert, sich mit dem eigenen Verhalten auseinander zu setzen. • (Auch) Kinder wollen nicht erzogen werden (das weiß jeder: Trotz als Kraftquelle und Entwicklungsressource)! Quellen: Ahrbeck, B. (2005). Das Schlüsselkind – ein Held der neuen Zeit? Der Rückzug der Erwachsenen aus der Erziehung. Forschung & Lehre, Heft 4, 178-180. Mead, M. (1973). Der Konflikt der Generationen. Jugend ohne Vorbild. Olten & Freibung i. B.: Walter-Verlag.

  18. These 4: Prävention braucht wissenschaftliche Fundierung und eine Leitidee! • Festinger (1983) untersuchte die Entwicklung von 277 jungen Männern, die von früher Kindheit an bis zur Volljährigkeit immer wieder in Heimen N.Y.s lebten; 68% von ihnen konnten 3 oder mehr Aufenthalte vorweisen. Vernachlässigung, Missbrauch, Misshandlung oder Krankheiten der Eltern hatten sie teilweise über Jahre erlebt. Viele hatten anhaltende Schulprobleme. Festinger verglich diese Männer 10 Jahre später, als sie 30 Jahre alt waren, mit einer landesrepräsentativen Kontrollgruppe gleichaltriger Männer. Ph. D. Trudy Festinger • Die Hochrisikogruppe und die Kontrollgruppe unterschieden sich nicht hinsichtlich der Arbeitslosenraten, des Gesundheitsstatus, der Zukunftserwartungen, der emotionalen Zufriedenheit oder ihres „Glücksgefühls“. • Darüber hinaus gab es keine Anzeichen dafür, dass bei den Kindern dieser Männer wiederum häufiger Heimaufenthalte notwendig oder diese Männer in erhöhtem Masse von öffentlicher Unterstützung abhängig waren. • Das Resilienzkonzept und das Konzept der Salutogenese dienen der Erklärung dieses Effekts. Quelle: Festinger, T. (1983). No One Ever Asked Us: A Postscript to Foster Care. New York: Columbia University Press.

  19. Bildquelle: [http://www.hollywoodjesus.com/movie/machinist/22.jpg] Teil 3: Das Resilienzkonzept - die Chancen der Deprivation

  20. Das Resilienzkonzept • Fundierung: Präventionsangebote müssen durch eine entwicklungspsychologische Anforderungsanalyse vorbereitet sowie durch formative und summative Evaluation flankiert werden. • Leitidee: Resilienz ist das Vermögen einer Person oder eines sozialen Systems (z.B. Familie), sich trotz schwieriger Lebens- bedingungen auf sozial akzeptiertem Wege gut zu entwickeln (Rutter, 1990):  Widerstand gegen die Zerstörung der eigenen Integrität (Unbescholtenheit, Unbestechlichkeit) unter äußerem Druck,  Aufbau eines positiven Lebens. Sir Michael Rutter • Der Begriff „resilience“ bezeichnet ursprünglich die Eigenschaft von Werkstoffen, nach starken Verformungen die ursprüngliche Gestalt wieder anzunehmen („Fußballeffekt“). • Risikoforschung: Welche Risiken sind in welchem Ausmaß und auf welche Weise mit Entwicklungsbeeinträchtigungen verknüpft? • Resilienzforschung: Warum entwickeln sich Menschen trotz erdrückender Entwicklungsrisiken zu psycho-sozial gesunden Persönlichkeiten? • Das Resilienzkonzept korrespondiert mit dem gesundheitspsychologischen Konzept der „Salutogenese“ (Antonovsky, 1997). Quellen: Rutter, M. (1990). Psychosocial resilience and protective mechanisms. In J. Rolf, A.S. Masten, D. Cicchetti, K.H. Nüchterlein & S. Weintraub (Eds.), Risk and protective factors in the development of psychopathology. Cambridge: Cambridge University Press. Masten, A.S., Best, K.M. & Garmezy, N. (1990). Resilience and development: Contributions from the study of children who overcome adversity. Development and psychopathology 2,425-444.

  21. Wie kann man Resilienz fördern (1) Quelle: Vanistendael (siehe oben) und Lösel, F. & Bliesener, T. (1990). Resilience in Adolescence: A study on the Generalizability of Protective Factors. In K. Hurrelmann & F. Lösel (editors), Health Hazards inAdolescence. New York: Walter de Gruyter. „Casita“ Das Haus der Resilienz

  22. Wie kann man Resilienz fördern? (2) • 10 Fragen für (aufgrund von sozialisationsresistenten Klienten niedergeschlagene, aber resiliente) Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe, der Polizei, der Schule …: • Hat mein Klient jemanden (Freunde, Familienmitglieder oder irgendeine andere Person), zu dem es eine sehr gute Beziehung pflegt? • Wie gibt mein Klient seinem Leben einen Sinn? • Welche Tätigkeiten kann mein Klient wirklich gut ausführen? • Welche positiven Eigenschaften besitzt mein Klient? • Woran hat mein Klient Spaß und Freude? • Welche Problemwahrnehmung hat mein Klient? • Was kann ich tun, dass mein Klient seine Perspektiven verändert? • Gibt es Klienten, die keine offensichtlichen Probleme haben, obwohl sie mit vergleichbaren Schwierigkeiten konfrontiert sind? • Ist der Klient schon ein Problemfall für mich? • Wenn ich in der „Experten“-Rolle bin, worauf beruht dann meine Expertenschaft? Quelle: Vanistendael, S. (2003). Wachsen im Auf und Ab des Lebens. In D. Sturzbecher & B. Schrul (Hrsg.), Kinder stark machen ... Konzepte der Gewalt- und Kriminalitätsprävention sowie der Verkehrssicherheitsarbeit. Potsdam: Arbeitsstelle für Bildungs- und Sozialisationsforschung der Universität Potsdam.

  23. Wie kann man Resilienz fördern (3) • Schlüsselüberlegung: Menschen wählen und formen ihre Umwelten und Erfahrungen (Lebenspraxis) in einem bedeutenden Umfang. Die Betrachtung individueller bzw. psychologischer Aspekte von Problembewältigung ist für den Einzelnen aussichtsreicher als die Diskussion von (sozial bedingten) Risiken. • Resilienz ist keine „einheitliche“ Persönlichkeitseigenschaft: Sie existiert in abgestuften Facetten, die risikospezifisch, kontextabhängig und ein Ergebnis des Zusammenspiels von Person und Umwelt sind. • Resilienzentwicklung ist kein lineares Phänomen: Ihr Wiederaufbau nach Schicksalsschlägen ist oft unvollständig; zuweilen zeigt sich eine gestiegene Verwundbarkeit bei späteren ähnlichen Unglücksfällen. • Resilienz ist nicht zuletzt von genetischen Anfälligkeiten (z.B. kognitive Voraussetzungen), früheren biografischen Umständen („stählende“ Erfahrungen) und vorteilhaften Wendepunkten (Bildungs- und Berufschancen, Wahl eines Ehepartners, Veränderung durch einen Umgebungswechsel) abhängig. • Resilienzförderung betrifft das Verhalten komplexer Systeme: Sie ist daher schwierig zu leisten, und ihr Erfolg trägt lediglich Wahrscheinlichkeitscharakter.

  24. Wie kann man Resilienz fördern? (4) • Eine Leitlinie aus (sozial-) politischer Sicht:  Resilienz wächst im Zusammenspiel des Kindes mit seiner Umwelt. Da Resilienz weder umfassend noch beständig ist, bedarf es einer permanenten Resilienz- förderung im spezifischen kulturellen Kontext von Kindern, Jugendlichen ...  Das Resilienz-Konzept ist daher kein Ersatz für Sozialpolitik, sondern inspiriert sie und rückt sie ins Blickfeld. • Eine Leitlinie aus individuell-professioneller Sicht (Anthony Bloom, russisch- orthodoxer Mönch):  „Wenn wir einen Menschen nicht anschauen und die Schönheit in ihm sehen, können wir gar nichts für ihn tun. Man hilft einem Menschen nicht dadurch, dass man entdeckt, was bei ihm falsch, hässlich und verzerrt ist. (...)  Jeder einzelne von uns ist ein Abbild Gottes, aber jeder gleicht einem beschädigten Bild. Wenn wir eine Ikone erhielten, die durch Abnutzung, durch menschlichen Hass oder andere Umstände beschädigt wurde, würden wir sie mit Ehrfurcht, Zärtlichkeit und Trauer betrachten. Wir würden unsere Aufmerksamkeit nicht in erster Linie der Tatsache zuwenden, dass sie beschädigt ist, sondern der Tragödie ihrer Beschädigung. Wir würden uns darauf konzentrieren, was von der Schönheit übrig ist und nicht auf das, was von der Schönheit verloren ging. Und das ist es, was wir bezüglich jedes Menschen erst noch lernen müssen ...“ Quelle: Vanistendael, S. (1996). Einige Bausteine für eine Kinderschutzpolitik in Europa. In W. Edelstein, K. Kreppner & D. Sturzbecher (Hrsg.), Familie und Kindheit im Wandel. Postdam: Verlag für Berlin-Brandenburg.

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