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Gab es ein Deutsches Wirtschaftswunder?

Gab es ein Deutsches Wirtschaftswunder?. Programm. Daten und Fakten Die Situation nach 1945 Die Entwicklung zur Reform 1948 Die westdeutschen Reformen 1948 und alliierte Aufbauhilfen Wirtschaftliche Entwicklung 1946 - Ende 1949 Wirtschaftliche Entwicklung nach der Reform Thesen

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Gab es ein Deutsches Wirtschaftswunder?

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  1. FU Berlin, Sommer 2006

  2. Gab es ein Deutsches Wirtschaftswunder? FU Berlin, Sommer 2006

  3. Programm • Daten und Fakten • Die Situation nach 1945 • Die Entwicklung zur Reform 1948 • Die westdeutschen Reformen 1948 und alliierte Aufbauhilfen • Wirtschaftliche Entwicklung 1946 - Ende 1949 • Wirtschaftliche Entwicklung nach der Reform • Thesen • Reformen und Aufbauhilfe als Strukturbruch • Rekonstruktion und Konvergenz • Sektoraler Wandel und Technologiediffusion • Neue Fragen FU Berlin, Sommer 2006

  4. Die Situation nach 1945 • Deutschland war besetzt und in Zonen aufgeteilt • Die drei Westzonen bedeckten • 52% des alten Reichsgebiets, • vor 1939 lebten dort 57% der Bevölkerung, • die 61% des Industrieoutputs • aber nur 43% der Landwirtschaftsproduktion herstellten • Der Gesamtschaden der Bombardierungen im Westen war (abgesehen von den Toten) begrenzt, aber die Infrastruktur war weitgehend zerstört (Eisenbahnen, Brücken, etc.) • Zwischen 1945 und Mitte 1948 kamen etwa 8 Millionen, bis 1950 etwa 10 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus anderen Teilen Deutschlands in die Westzonen/ BRD FU Berlin, Sommer 2006

  5. FU Berlin, Sommer 2006

  6. FU Berlin, Sommer 2006

  7. Die Situation nach 1945 • Der Zusammenbruch der Produktion und die verdeckte Geldmengenausweitung im Rahmen der Rüstungs- und Autarkiepolitik des NS-Regimes (siehe VL Autarkie) brachten starke Inflation mit sich: die offiziellen Märkte wurden weitgehend durch Schwarzmärkte ersetzt Quelle: K.H. Rothenburger (1980), S. 131 FU Berlin, Sommer 2006

  8. Die Situation nach 1945 Quelle: Stolper et al. 1966 FU Berlin, Sommer 2006

  9. Die Situation 1945 • Im Verlauf des Jahres 1946 kam es zu einer Neuorientierung der US-Deutschlandpolitik mit dem Versuch, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Westzonen deutlich zu erhöhen (siehe VL Blockintgeration I) • Januar 1947 wurde die US- und die britische Zone zusammengeschlossen, Anfänge zur deutschen Selbstverwaltung im Frankfurter Wirtschafsrat • Durch Zunahme der Spannungen mit der UdSSR und wirtsch. Abhängigkeit Frankreichs von den USA Zusammenschluss der Westzone 1948 FU Berlin, Sommer 2006

  10. Zur Vorgeschichte der Reformen 1948 • Die Politische Mehrheit in Westdeutschland lehnte bis 1948 eine kapitalistische Wirtschaftsordnung ab • Allein die DPD (gegr. März 47 seit Dez. 48 FDP) vertrat klar ein kapitalistisches System mit sozialen Zügen • Die SPD trat für weitgehende Verstaatlichung und umfangreiche Wirtschaftsplanung nach Vorbild der Programmatik der britischen Labour Party ein; über Viktor Agartz als Leiter des Wirtschaftsrats (Jan-Juli 1947) hatte sie einigen Einfluss • Die CDU trat in ihrem Ahlener Programm zunächst ebenfalls für teilweise Verstaatlichung und Lenkung und Planung von Teilen der Wirtschaft „auf lange Zeit“ ein • Ludwig Erhard, seit 1947 Mitglied des Wirtschaftsrats wurde März 1948 dessen Leiter; obwohl er politisch zunächst den Liberalen zugerechnet wurde, kandidiert er Juni 1949 für die CDU in BW; im Juli 1949 übernimmt die CDU Erhards wirtschaftspolitisches Programm („Düsseldorfer Leitsätze“); nach Adenauers Rücktritt 1963 wird Erhard Bundeskanzler, er tritt bezeichnenderweise aber niemals der CDU bei (formal kann er daher auch nie ihr Vorsitzender gewesen sein !) FU Berlin, Sommer 2006

  11. Zur Vorgeschichte der Reformen 1948 • Theoretische Grundlagen für das Wirtschaftssystem der BRD wurden durch die „Freiburger Schule“ um Walter Eucken, Franz Böhm, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow und Alfred Müller-Armack gelegt, denen Erhard nahe stand (Jahrbuch ORDO); sie sprachen sich für eine Wettbewerbsordnung aus, die allerdings gegen Marktmacht und übermäßige staatliche Eingriffe geschützt werden müsse (Neoliberalsimus) • Politisch durchgesetzt wurde das neue Wirtschaftssystem allerdings durch die Alliierten (va USA); die Unabhängigkeit der Zentralbank ist hierfür ein schönes Beispiel (Buchheim 2001) FU Berlin, Sommer 2006

  12. Westdeutsche Reformen von 1948 und alliierte Aufbauhilfe • Neben der Aufbauhilfe im Rahmen der GARIOA und ERP-Programme (siehe VL Blockintegration I) wurde 1948 nach Plänen der Alliierten in den Westzonen unter der Leitung von Erhard als Direktor des Wirtschaftsrats eine Währungsreform, sowie eine Steuerreform durchgeführt • Währungsreform beinhaltete drei zentrale Schritte • Reduktion der Geldmenge • Umstrukturierung öff. und privater Schulden • Einrichtung eines stabilen institutionellen Rahmens FU Berlin, Sommer 2006

  13. Westdeutsche Reformen von 1948 und alliierte Aufbauhilfe • Geldmenge • Die Reichsmark (RM) verlor ihren Wert als Zahlungsmittel und konnte zum 20. Juni 1948 in begrenztem Umfang in Deutsche Mark (DM) umgetauscht werden • 40 DM Erstausstattung für alle und 20 DM nach weiteren 2 Monaten • Unternehmen erhielten 60 DM pro Beschäftigten, öff. Einrichtungen den Gegenwert von 1 mtl. Gehaltssumme • Darüber hinaus wurden alle privaten Sparguthaben auf 1/10 reduziert (…) • Effektiv war damit das Umtauschverhältnis RM/DM 10: 0.65 FU Berlin, Sommer 2006

  14. Westdeutsche Reformen von 1948 und alliierte Aufbauhilfe 2. Umschuldungen • Alle Löhne, Renten, Sozialleistungen wurden 1:1 umgestellt • Die Schulden des Reichs wurden gestrichen • Die Banken wurden mit Ausgleichsforderungen gg der Bank deutscher Länder ausgestattet (4% der Forderungen gg dem Reich von 1945), und erhielten weitere Guthaben die über die Mindestreservevorgaben hinausgingen • Damit konnten die Privatbanken in bedeutendem Umfang Geldschöpfung betreiben 3. Absicherung der Währung • Schaffung der Bank deutscher Länder März 1948 als einzige Notenbank, mit starker Unabhängigkeit von allen politischen Institutionen • Strikte Vorschriften der Militärregierungen an die Öffentlichen Haushalte: Schulden durften nur in Antizipation zukünftiger Einnahmen aufgenommen werden, die Haushalte mussten strikt ausgeglichen werden FU Berlin, Sommer 2006

  15. Westdeutsche Reformen von 1948 und alliierte Aufbauhilfe • Einige Tage nach der Währungsreform wurden – zunächst nur in der Bizone - zudem Preiskontrollen für fast alle Industriegüter und viele Nahrungsmittel aufgehoben (Ausnahmen Grundnahrungsmittel, wichtige Rohstoffe, Löhne, Gehälter und Pensionen, Energieversorgung) • Zeitgleich mit der Währungsreform wurden pers. Einkommenssteuern um 1/3 reduziert, Unternehmenssteuern gesenkt, und Anreize zur Re-Investition von Gewinnen und Anlage von Sparvermögen geschaffen („kleine Steuerreform“) • Ein zunächst ebenfalls geplanter „Lastenausgleich“ zum Ausgleich der ungleichen Behandlung von Bürgern mit Sach- und Grundkapital gg. Bürgern mit überwiegend Geld- und Sparkapital wurde verschoben FU Berlin, Sommer 2006

  16. Die Entwicklung 1946 - Ende 1949 FU Berlin, Sommer 2006

  17. Die Entwicklung 1946 - Ende 1949 • Das Angebot stieg offenbar an, die Geldnachfrage ebenfalls: • die Geldmenge, zunächst drastisch reduziert, wuchs durch Geldschöpfung der Banken rasch (6,5 Mrd. DM Ende Juli 1948 bis 13,1 Mrd. DM Ende Dez. 1948) • Die Folge der rasch steigenden Nachfrage waren steigende Preise: in den 4 Monaten nach der Reform stiegen die Konsumentenpreise um 33% die Produzentenpreise um 45% • Im Herbst 1948 kam es zu einer Krise: erster Vertrauensverlust in die Währung, die Gewerkschaften riefen zum 12. November zu 1 Tag Generalsstreik auf um gegen die Inflationspolitik Erhards zu protestieren • Im November erhöht die Zentralbank die Mindestreserve, die Ausweitung der Geldmenge verminderte sich, die Preise stabilisierten sich: im Dezember 1948 wurden Tabakwaren zu 50% ihres Preises vor Juni 1948 gehandelt FU Berlin, Sommer 2006

  18. Die Entwicklung nach der Reform Fischer (1987), S. 459 FU Berlin, Sommer 2006

  19. Die Entwicklung nach der Reform • Auch im Anschluss an die 1948 gelungene Währungsreform bleiben die Wachstumsraten der Bundesrepublik Deutschland enorm hoch, im internationalen Vergleich wuchs unter den Industriestaaten zwischen 1950 und 1960 nur Japan schneller (Tabelle zeigt durchschn. jährl. Wachstumsraten des BIP) FU Berlin, Sommer 2006

  20. Die Entwicklung nach der Reform • Welche Faktoren waren ausschlaggebend? • Per Definition setzt sich das Wachstum des BIP aus Wachstum der Inputfaktoren und Wachstum der Faktorproduktivität zusammen • Wie haben sich die einzelnen Komponenten in der BRD 1950-1989 entwickelt? FU Berlin, Sommer 2006

  21. Die Entwicklung nach der Reform Quelle: Giersch et al. (1992) FU Berlin, Sommer 2006

  22. Thesen • Das „Deutsche Wirtschafswunder“ hat ohne Zweifel in dem Sinne stattgefunden, dass die Westdeutsche Wirtschaft bis ca. 1960 enorm dynamisch gewachsen ist • Aber war das ein „Wunder“? • In der laufenden Debatte gibt es im wesentlichen drei Positionen (die alle einander nicht vollkommen ausschließen) • Die Reformen 1948 stellten einen Strukturbruch dar, der die Dynamik ermöglichte • Die Dynamik war im wesentlichen Rekonstruktion der Kriegszerstörungen, seit Mitte der 1950er Konvergenzwachstum zu steady state (a la Solow) • Die Dynamik in der BRD und anderswo seit 1950 war im wesentlichen Folge des sektoralen Wandels sowie internationaler Technologiediffusion: dafür sprechen die hohen Wachstumsraten von Arbeitsproduktivität und TFP FU Berlin, Sommer 2006

  23. Strukturbruch • Die Währungsreform löste die seit ca. 1936 aufgestaute Inflation und schuf Anreize zu Neuinvestitionen (Klump 1985, differenzierter Giersch et al. 1992) • Zudem profitierte die westdeutsche Industrie in großem Umfang von der Integration in den „Westblock“, erleichtert durch den Rahmen des Marshallplans; seitdem sind Exporte ein Wachstumsmotor (Lindlar 1997) • Dagegen hat vor allem Abelshauser (1975) argumentiert: • Der Produktionsindex vor Juni 1948 unterschätzte die Entwicklung, da Unternehmen ihre Produktion in Antizipation der Reform horteten • Wenn man den Elektrizitätsverbrauch als Ersatzindikator für Produktion nimmt, stellt man fest dass der Aufschwung 1947 begann FU Berlin, Sommer 2006

  24. Strukturbruch • An Abelshauser wurden va. 4 Aspekte kritisiert • Die Produktivität des Einsatzes von Elektrizität stieg mit der Industrieproduktion, daher (und aus anderen Gründen) sind die amtlichen Angaben zum Produktionsindex wohl korrekt (Ritschl 1985) • Antizipation der Reform ist kein Argument gegen Effekte der Reform • Die Preisliberalisierung Juni 1948 in der Bizone, nicht in der Frz. Zone scheint ganz offenbar positive Effekte gehabt zu haben (siehe Graphik zu 1946-49) • Die Entwicklung in der DDR und der BRD im Vergleich deuten insgesamt auf eine positive Rolle der Wirtschaftspolitik hin (...) FU Berlin, Sommer 2006

  25. Rekonstruktion und Konvergenz • andere Autoren behaupten, die Entwicklung bis Mitte der 1950er Jahre sei im wesentlichen Rekonstruktionswachstum nach den Kriegsfolgen gewesen (Dumke 1990) • Auch wenn der Kapitalstock nach dem Krieg in westdeutschland höher war als vor dem Krieg (Krengel 1958), war doch zunächst die Infrastruktur stark beschädigt, so dass Spielraum für Rekonstruktionswachstum blieb • die Entwicklung bis zum Ölschock 1973 war Konvergenz der deutschen Volkswirtschaft hin zu ihrem langfristigen steady state (Smolny 2000) • nach dem Standard-Modell der neoklassischen Wachstumstheorie sollte eine Volkwirtschaft umso schneller wachsen, je niedriger die anfängliche Kapitalintensität ist, da die hohe Grenzproduktivität hohe Investitionsanreize setzt (Barro/ Sala-i-Martin 1995, S. 23) FU Berlin, Sommer 2006

  26. Sektoraler Wandel und Technologiediffusion • Bereits in den 1950er Jahren wurde auf den raschen sektoralen Wandel in Deutschland und anderen Teilen Europas hingewiesen • Kindleberger (1967) war der erste der das rasche Wachstum in weiten teilen Europas nach 1945 darauf zurückführte, dass die Produktivität in der Industrie deutlich schneller stieg als in der Landwirtschaft, eine Abwanderung von Arbeitskräften in die Landwirtschaft daher mit enormer gesamtwirtschaftlicher Produktivitätssteigerung verbunden war • Temin (2002) argumentiert darüber hinaus, dass dies durch die Handelsintegration seit den 1950er Jahren ermöglicht wurde: die Autarkiepolitik in Deutschland, Italien und Spanien sowie der Protektionismus anderer Staaten hatten den sektoralen Wandel in Europa seit den 1930er Jahren blockiert • Andere Autoren (ua. Smolny 2000) haben darauf hingewiesen, dass es auch im Rahmen des Marshallplans zu umfangreichem Technologietransfer aus den USA nach Europa kam, der die gesamte Faktorproduktivität (TFP) gesteigert habe FU Berlin, Sommer 2006

  27. Sektoraler Wandel und Technologiediffusion • Temin (2000) versucht einige dieser Hypothesen mit folgender Regression zu testen (siehe Temin 2000, S. 12 ff) • g = constant1 + b(y*-y) + cGAP + d(A-A*) + error, oder auch • g = constant2 – by + cGAP + dA + error • Man würde erwarten, dass die reale Wachstumrate umso höher ist, • Je größer der Unterschied im pro Kopf EK 1948-1938 (negativ!): c < 0 • Je weiter das Land von seinem steady state y* entfernt ist: b> 0 • Je weiter das Land von seiner langfristigen Beschäftigtenquote in der Landwirtschaft A* entfernt ist: d > 0 FU Berlin, Sommer 2006

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  29. Neue Fragen • Insgesamt scheint also das Europäische Wunder und auch das deutsche „Wirtschaftswunder“ der 1950er Jahre auf sektoralen Wandel und Rekonstruktion zurückzuführen sein, seit 1965 zunehmend auf Konvergenzwachstum • Für Deutschland kann man auf Grundlage der Schätzung behaupten, dass der sektorale Wandel in Deutschland 1950-1970 ca. 1,2 % zusätzliches jährliches Wachstum bedeutete (Temin 2000, S. 15) • Kann eventuell auch ein Teil des Wachstums vor 1950 so erklärt werden? FU Berlin, Sommer 2006

  30. Neue Fragen • Welche Rolle spielte die riesige Bevölkerungsverschiebung seit 1946 für die westdeutsche Entwicklung? • In der Regel wird dies als ein zusätzliches Problem betrachtet, evtl. hatte die Entwicklung aber überwiegend positive gesamtwirtschaftliche Folgen • Die Vertriebenen wurden gezielt in Regionen mit hohem LW-Anteil geschickt (weniger Zerstörung bessere Unterbringung, bessere Versorgungslage) • Dort boten sich ihnen aber kaum Beschäftigungsmöglichkeiten in der Landwirtschaft, die Nachfrage nach abhg. Lohnarbeitern sank massiv, die Mechanisierung stieg enorm an • Zugleich wurden die Löhne in diesen Gebieten durch das zusätzliche Angebot an Arbeitskraft gesenkt FU Berlin, Sommer 2006

  31. Wachstumsraten von Bevölkerung (nur Effekt des Zustroms von Flüchtlingen etc.), der Beschäftigung im Nicht-LW-Sektor und des Beschäftigungsanteils der LW, 1939-1950, 35 Westdeutsche Regierungsbezirke FU Berlin, Sommer 2006

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