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21 Sicherheit. Sicherheit für und vor Deutschland. Deutsche Sicherheitsfragen nach dem Zweiten Weltkrieg hatten stets den Doppelaspekt der Sicherheit für und vor Deutschland.
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21 Sicherheit Sicherheit für und vor Deutschland • Deutsche Sicherheitsfragen nach dem Zweiten Weltkrieg hatten stets den Doppelaspekt der Sicherheit für und vor Deutschland. Die Erfahrungen der beiden Weltkriege legten den Alliierten die sicherheitspolitische Einbindung nahe, was letztlich auch die Kontrolle über deutsche Streitkräfte beinhaltete. Westdeutschland an der Nahtstelle zwischen den systemantagonistischen Blöcken musste aber auch gegen die potentielle Bedrohung aus dem Osten gesichert werden. Aus deutscher Sicht hatte vornehmlich diese Seite der Medaille herausragende Bedeutung, aus alliierter Sicht waren beide Aspekte annähernd gleichrangig. Ziel und Zweck der NATO mit der deutschen Mitgliedschaft war, wie es die britische Logik in einem Lord Ismay, dem ersten Generalsekretär der NATO, zugesprochenen Zitat treffend formulierte: Die Amerikaner drin, die Russen raus und die Deutschen niederzuhalten.
Aus westlicher Perspektive musste der neue deutsche Staat tief und dauerhaft zuverlässig in die militärische, wirtschaftliche und politische transatlantische und westeuropäische Ordnung einge-bunden werden. Die Sicherheitsabhängigkeit von den Vereinigten Staaten war dabei das wichtigste Kontrollmittel. Damit war die amerikanische Strategie der Doppeleindämmung Deutschlands einerseits und der Sowjetunion andererseits für vier Jahr-zehnte gesichert. Es bestand ein direkter Zusammenhang zwischen der militärischen Integration der Bundesrepublik und dem sukzessiven Wiedergewinn ihrer Souveränität. Die deutsche Diplomatie und die deutsche Sicherheitspolitik konnten sich somit nur innerhalb eines recht beschränkten Handlungsspielraums bewegen.
Der Beitritt der Bundesrepublik zur NATO im Jahr 1955 veränderte aber auch das westliche Verteidigungsbündnis selbst. Die NATO entwickelte sich immer mehr aus einem lockeren Sicherheitspakt in ein integriertes Militärbündnis unter amerikanischer Vorherrschaft. Die Abschreckung der NATO gegenüber dem Osten war immer nur ein Teil ihrer Bestimmung. Genauso wichtig war die politische Seite des Bündnisses, nämlich die einer westlichen Wertegemeinschaft von Demokratien.
Auch Westdeutschland unter Kanzler Adenauer nutzte die politische Seite des Bündnisses. Das Programm der Westbindung sah die Wiederbewaffnung als Preis für die Souveränität vor. Bonn gewann damit in der NATO zwangsläufig auch Einfluss. Die Integration des deutschen Militärpotentials bot Verhandlungskapazitäten, die über die Jahre anwuchsen. Die innenpolitische Seite in Deutschland, die Wiederbewaffnung, war weniger problematisch, als es die oppositionelle SPD wahrhaben wollte. Ihre Gegner-schaft konnte sich zwar auf die antimilitaristische Stimmungslage unmittelbar nach dem verlorenen Krieg stützen, einmal durchgesetzt, gewann die militäri-sche Westbindung jedoch immer mehr Anhänger in der deutschen Bevölker-ung. Letztlich musste sich die SPD-Opposition anpassen und nachholend lernen. Wie Konrad Adenauer schon im Dezember 1949 verkündet hatte, war das Bonner Doppelkonzept von Integration und Gleichberechtigung der Kern der westdeutschen Sicherheitspolitik.
In den Anfangsjahren lagen das westdeutsche Eigeninteresse an der Westbindung und die Interessen der Westmächte auf einer Linie. Die unangefochtene Hegemonie der USA im Sicherheits-bereich gab dem Bündnis zusätzlich Kraft und Eindeutigkeit. Die westdeutsche Position lief in dieser Phase praktisch auf eine Selbsteindämmung hinaus. Mehr Probleme bereitete die deutsche Forderung nach Gleichberechtigung mit den europäischen Partnern im Bündnis. Dies war auch der Hintergrund für das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), weil Frankreich einer gleichberechtigten Teilnahme Deutschlands nicht zuzustimmen bereit war.
Auch der NATO-Beitritt und die Westeuropäische Union (WEU) waren nicht auf die völlige Gleichberechtigung Deutschlands abgestellt. Bonn musste als Zulassungsbedingung für die WEU auf die Herstellung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen auf deutschem Boden verzichten. Zugleich setzte die WEU eine obere Grenze des deutschen Militärbeitrags fest. Die Bundesrepublik verpflichtete sich zur Aufstellung von zwölf Divisionen, die alle der NATO unterstehen würden. Dies unterstreicht neben dem Abschreck-ungseffekt gegenüber dem Osten die Rüstungskontrollseite gegenüber Deut-schland selbst.
De facto entwickelte sich der deutsche Wehrbeitrag zum Rückgrat der konventionellen NATO-Landstreitkräfte. Einerseits erfüllten die anderen westeuropäischen Mitgliedsländer ihre Verpflichtungen nicht, andererseits baute die Neuorientierung der amerika-nischen Nuklearstrategie für Europa die Bundeswehrdivisionen in ihre Stra-tegie ein. Tendenziell konnte dies auf eine Verengung der NATO zu einem bilateralen deutsch-amerikanischen Sicherheitspakt hinauslaufen. Es entstand ein Spannungsverhältnis zwischen den deutschen Gleichbe-rechtigungsinteressen, den Integrationsprinzipien und der amerikanischen Nukleardiplomatie. Der westdeutsche Militärbeitrag wurde deshalb schnell so bedeutend, weil die 1952 von der NATO intendierten 96 Divisionen vom NATO-Rat im De-zember 1954 auf 30 verringert wurden. Besonders Frankreich und Großbritannien waren mit ihren potentiellen Beiträgen überfordert. Ihre konventionellen Truppen dienten statt der NATO damals der Erhaltung von bedrohten Kolonialinteressen in Afrika und Asien.
Die Konsequenz aus der konventionellen Unterlegenheit der NATO gegenüber dem Warschauer Pakt zog die amerikanische Entscheidung, in Europa Nuklearwaffen aufzustellen. Letztere wurden zum „Schwert“ der NATO erkoren, die konventionellen Streitkräfte zum „Schild“. Die meisten westeuropäischen Regie-rungen sahen darin die kostengünstigste Lösung. Konventionelle Truppen sollten als Stolperdraht wirken, im Ernstfall eines sowjetischen Angriffs sollte aber ein nuklearer Gegenschlag der USA nach dem Prinzip der „Massiven Vergeltung“ folgen. Die USA wollten zwar lieber den Aufbau eines größeren konventionellen Potentials in Westeuropa, da dies nicht zu haben war, mussten sie sich auf die zwölf Divisionen der Bundeswehr als Unterstützung für ihre strategische Planung einstellen. Der deutsche Verteidigungsbeitrag wurde damit erheblich aufgewertet. Eigent-lich nur als Ergänzung geplant, wurde die Bundeswehr zum Kernelement der neuen amerikanischen Nuklearstrategie für Europa.
Die Kehrseite dieser in finanzieller Hinsicht billigeren Ab-schreckung war die Abhängigkeit der westeuropäischen Länder von Waffensystemen, über die sie keine Verfügungsgewalt besaßen. Die Sprengköpfe der taktischen Nuklearwaffen in Deutschland z. B. blieben unter strenger amerikanischer Kontrolle, von der Einsatzplanung war Bonn ausgeschlossen. Daraufhin überprüfte die Bundesrepublik ihre Sicherheitspolitik und kündigte im September 1956 die Verkürzung der Wehrpflicht von 18 auf 12 Monate an, was auf eine Truppenreduzierung von 500 000 auf 325 000 hinausge-laufen wäre. Gleichzeitig bekundete Bonn Interesse an taktischen Nuklear-waffen und einem Mitspracherecht bei der nuklearen Einsatzplanung. Das war sicherheitspolitisch logisch und konsequent, aber politisch höchst prekär. Der Bonner Finger am nuklearen Abzug hätte allen anderen Verbündeten missfallen. Das Bonner Integrationskonzept war bei den westlichen Partnern beliebt, die Gleichberechtigungsforderung dagegen nicht.
Die vage amerikanische nukleare Schutzverpflichtung missfiel Frankreich und Großbritannien genauso, eine gemeinsame Strategie mit Westdeutschland zusammen lag beiden allerdings fern. Frankreich baute seine nationale nukleare Force de Frappe auf. Großbritannien entwickelte sein eigenes Nukleararsenal und setzte auf die Sonderbeziehungen zu den USA. Im Dezember 1962 vereinbarten der amerikanische Präsident Kennedy und der britische Premierminister Harold Macmillan den Kauf von Polaris-Raketen in den USA. Das Bonner Ziel einer integrierten NATO-Streitkraft mit gleichberech-tigter deutscher Teilnahme erwies sich sehr bald als unrealistisch. Die strategischen Illusionen Bonns scheiterten an der politischen Wirklichkeit. Fallbeispiel war die Multilaterale Nuklearstreitmacht (MLF).
Ursprünglich von der Regierung Eisenhower vorgeschlagen und von Präsident Kennedy nur zögerlich wieder präsentiert wurde die Idee, eine seegestützte nukleare Streitkraft der NATO zu schaffen. Sie sollte aus einem gleich großen amerikanischen und britischen Beitrag bestehen, einem französischen Kontingent sowie einer Anzahl weiterer Trägerschiffe, die der NATO unterstanden. Die westdeutsche Regierung wäre dazu nur allzu bereit gewesen. Die Probleme lagen auf der politischen Seite bei der angestrebten Multilateralität des Unterfangens. Nach der Lesart der Administration Kennedy war die MLF ein „Gaukelspiel“, das den europäischen NATO-Partnern ein Mitbestimmungsrecht über den Einsatz von Kernwaffen einräumen sollte, ohne ihnen wirklich Verfügungsgewalt zuzugestehen. Nach amerikanischer Ansicht sollte allerdings mit der MLF Bonn nicht Nuklearmacht werden. Die westdeutsche Seite nahm die MLF ernst, Washington hingegen nicht.
Die Folge der MLF-Idee war eine Kette von Missverständnissen zwischen den NATO-Mitgliedern. Im Herbst 1966 gab der amerikanische Präsident Johnson das Projekt auf. Ihm lag ein Rüstungsarrangement mit der Sowjetunion mehr am Herzen. In Bonn wurde dies als Bestätigung des langgehegten Verdachts interpretiert, Washington strebe einen amerikanisch-sowjetischen Ausgleich auf deutsche Kosten an. Der deutsche Bundeskanzler Ludwig Erhard verlor durch diese mißglückte Geschichte außenpolitisch erheblich an Ansehen. Das deutsche Gleichbe-rechtigungsziel hatte einen erheblichen Rückschlag erlitten. Der deutsche Gesandte bei der NATO, Grewe, schrieb 1965 an Außenminister Schröder: „Die Integration ist ohne Zweifel ein wirksames Instrument der Hegemonie des Mächtigsten in der Allianz.“ Bonn sollte nun lediglich durch die Beteiligung an nuklearen Konsultationen beschwichtigt werden. Dafür wurde im Dezember 1966 eine Nukleare Plan-ungsgruppe (NPG) eingerichtet. Ein echtes europäisches Mitspracherecht ent-stand daraus nicht. Im Prinzip wollten die USA aus Eigeninteresse die alleinige Entscheidungsgewalt über den Nukleareinsatz auch nicht aufgeben.
Weitere Probleme im deutsch-amerikanischen Verhältnis gab es, als die 1954 formulierte Doktrin der „Massiven Vergeltung“ durch amerikanische Initiative in die Strategie der „Flexiblen Reaktion“ umformuliert wurde. Offiziell wurde die Flexible Reaktion 1967 von der NATO angenommen. Aus der Sicht der westdeutschen Regierungen war die Aufgabe der Massiven Vergeltung mit der Entwicklung zu einer deutschen Sonderstellung im Bündnis verbunden. Die gab es sowieso, aber gerade davon wollte die westdeutsche Sicherheitspolitik weg. Den Kern der Bedenken formulierte Franz Josef Strauß im Jahre 1965, als er kritisch fragte, ob man wirklich darauf vertrauen könne, dass die Amerikaner bereit wären, das nukleare Risiko um der europäischen Freiheit willen auf sich zu nehmen. Zwar erhielten die Alliierten Träger für taktische Waffen, die blieben aber alle unter amerikanischer Verfügungsgewalt und amerikanischem Verschluss.
Es lässt sich also festhalten, dass die Koordination der amerikanischen und deutschen Sicherheitspolitik in den sechziger und siebziger Jahren aus deutscher Sicht immer schwieriger wurde. Je mehr das Bündnis an innerem Zusam-menhalt verlor, desto schwieriger wurde es auch für Bonn, zwischen der Linie Frankreichs und der der USA zu wählen bzw. zu jonglieren. Im Grunde waren die westdeutschen Sicherheitsinteressen bei den USA doch sehr viel besser aufgehoben als bei Frankreich. Die französische nukleare Streitmacht, die Force de Frappe, folgte dem Konzept der défense tous azimut, also eine Verteidigung in alle Richtungen. Praktisch handelte es sich angesichts der ebenso vorhandenen Sicherheits-abhängigkeit Frankreichs von den USA um ein politisches Konzept. Frankreich konnte Unabhängigkeit spielen, weil die NATO und voran die USA letztlich die Abschreckungsrolle übernommen hatten und es von sekundärer Bedeutung war, was Frankreich machte.
Die geographische und politische Lage der Bundesrepublik an der Ostgrenze der westlichen Allianz war mehr oder weniger zwingend mit einer prekären Sicherheitslage verbunden. Dem suchte die Bundesrepublik mit einer eigenen „Minidoktrin“, dem Prinzip der Vorneverteidigung, Rechnung zu tragen. Im Kriegsfall konnte die Bundesrepublik sehr wohl das einzige Opfer eines konventionellen Krieges werden. Die Möglichkeit einer Aufgabe des westdeut-schen Territoriums im Falle eines sowjetischen Angriffs musste die Bonner Planer beunruhigen. Der Austritt Frankreichs aus der NATO machte die deutsche Lage noch komplizierter. Die Verteidigung aus der Tiefe war damit praktisch unmöglich gemacht, im Ernstfall hätte die NATO also noch früher als vorgesehen auf Nuklearwaffen zurückgreifen müssen.
Paris war also trotz der deutsch-französischen Aussöhnung in der Sicherheitspolitik für Bonn kein guter Partner. Ein Austausch der amerikanischen Sicherheitsgarantie gegen eine franzö-sische kam nicht in Frage, weil die Force de Frappe gegenüber dem sowje-tischen Nuklearpotential zunächst kaum mehr als symbolischen Wert besaß. Zudem war das französische Nuklearprogramm politisch auch gegen die Bundesrepublik gerichtet. In Paris sah man im eigenen Nuklearstatus ein Ausgleichsmittel gegen den zunehmenden westdeutschen Einfluss auf wirt-schaftlichem Gebiet.
Die Sachzwänge des Ost-West-Nukleargleichgewichts und die Nukleardiplomatie der USA hielten die Möglichkeiten für eine eigenständige westdeutsche Sicherheitspolitik in einem sehr engen Rahmen. Die Bundesrepublik wie auch die DDR besaßen in ihren Bündnissen einen Sonderstatus, den sie im Zuge der Ost-West-Nukleardiplomatie deutlich zu spüren bekamen Beide waren voller Nuklearwaffen, aber ohne jegliche ernsthafte nukleare Mitbestimmung. Ironischerweise waren es die strategische Parität zwischen den beiden Supermächten und das Nachlassen der sowjetischen Bedrohung, die beiden Bündnisvormächten die Führung in ihrem Einflussbereich erleichterte.
Für beide Bündnissysteme war deutsches Territorium die Vorwärtsbasis für die Aufstellung der Nuklearwaffen. Beide deutsche Staaten waren damit regelrecht übersättigt. Die Nukleardiplomatie band also die beiden deutschen Staaten noch fester in die Bündnisse ein. Während das im Warschauer Pakt kein Thema für öffentliche Debatten war, traten innerhalb der NATO die grundlegenden Zweifel an der amerikanischen Nukleargarantie offen zutage. Es war einfach nicht plausibel, dass die USA nicht im Ernstfall die Beschränkung eines Nuklearkriegs auf Europa als Option nutzen würden.
Damit zerfiel das Bündnis in zwei Gruppen, die nuklearen und die nichtnuklearen Mitglieder. Die Nukleardiplomatie der USA bewirkte somit eine Spaltung des Bündnisses. Für die Bundesrepublik war unübersehbar, dass die amerikanische Sicher-heitspolitik nicht nur die deutsche Sicherheit garantieren, sondern die BRD auch kontrollieren sollte. Solange zumindest eine latente Bedrohung der deutschen Sicherheit durch die Sowjetunion existierte, konnte die deutsche Sicherheitspolitik ihrer Lage einer fast totalen Abhängigkeit nicht entkommen. Die Bundesrepublik wurde zwar zum wirtschaftlichen Riesen in Europa, sie blieb aber auf dem Feld der Sicherheit ein Zwerg.