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Jugendstrafverfahren. Grundsätze und JStPO. Leitideen des Jugendstrafverfahrens. Wenn das materielle Jugendstrafrecht mit seiner täterbezogenen, spezialpräventiven Ausrichtung zum Tragen kommen soll, muss auch das Verfahren entsprechend ausgestaltet sein.
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Jugendstrafverfahren Grundsätze und JStPO
Leitideen des Jugendstrafverfahrens Wenn das materielle Jugendstrafrecht mit seiner täterbezogenen, spezialpräventiven Ausrichtung zum Tragen kommen soll, muss auch das Verfahren entsprechend ausgestaltet sein. Ein jugendgerechtes Verfahren sollte innert kurzer Frist und ohne unnötige Formalien abgewickelt werden, für den Jugendlichen verständlich sein und ihm das Gefühl vermitteln, ernst genommen und fair behandelt zu werden.
Diskrepanzder Wahrnehmungen Nicht selten gehen die Intentionen, von denen sich Mitarbeitende der Jugendstrafrechtspflege leiten lassen, und die Erwartungen der betroffenen Jugendlichen diametral auseinander. Dementsprechend können auch ihre Wahrnehmungen stark von einander abweichen. Das zeigt eine von Hauser in Deutschland durchgeführte Untersuchung, in der Jugendrichter und von ihnen beurteilte Jugendliche zur selben Jugendgerichts-Verhandlung befragt wurden. Harald Hauser, Der Jugendrichter – Idee und Wirklichkeit, MSchrKrim 1980, S.1 ff.;
Verbesserte Akzeptanz Die mit der JStPO verbesserte Rechtsstellung hat offen-sichtlich auch zu einer verbesserten Akzeptanz der Verfahren durch die verurteilten Jugendlichen geführt. Das zeigt eine im Rahmen der Evaluation (S.165) durch-geführte Befragung. Danach äusserten 60% der befragten Jugendlichen nach dem Verfahren eine kritische Delikt-einstellung, 62% hielten das Urteil für fair. Allerdings kritisiert die gleiche Evaluation, dass die Ent-scheide und Rechtsmittelbelehrungen vielfach in einer nicht jugendgerechten Sprache erfolgen und deshalb für die Beschuldigten schwierig zu verstehen sind (S.162).
Verfahrensgrundsätze Das rechtsstaatliche Strafverfahren ist von Grund-sätzen geleitet, welche die Verwirklichung des materiellen Rechts gewährleisten sollen. Da sich das materielle Recht im Jugendstrafrecht deutlich vom Erwachsenenstrafrecht unterscheidet, müssen auch die Verfahrensgrundsätze nach jugendspezifischen Kriterien auf das Jugend-strafrecht ausgerichtet werden. Mit diesem Thema befasst sich der folgende Teil.
Erziehungsmodell Das Erziehungs- oder Wohlfahrtsmodell verfolgt das Ziel, Erziehungsdefizite festzustellen und bestmöglich zu kompensieren. Es versteht die Sanktion als erzieherischen Eingriff im eigenen Interesse des Jugendlichen. Die Verantwortlichen sehen sich als pädagogische Fachleute, die dem Wohl des Jugendlichen verpflichtet sind. Das Verfahren wird bereits als Teil der erzieherischen Intention eingesetzt, es soll den Jugendlichen durch seine moralische Qualität beeindrucken. In dieser Sicht sind rechtsstaatliche Instrumente eher Störfaktoren. Das Erziehungsmodell steht bei der Ahndung leichterer Straftaten im Vordergrund
Justizmodell Das rechtsstaatliche oder Justiz-Modell geht davon aus, dass jugendstrafrechtliche Interventionen trotz ihrer erzieherischen Ausrichtung Eingriffe sind, mit denen ein Übel zugefügt wird. Mit der Sanktion werden der Jugend-liche und seine Erziehungspersonen auf ihre Verantwor-tung angesprochen. Die Strafe ist als solche keine Erziehung, aber sie soll in der Auseinandersetzung erzieherisch verarbeitet werden. Der Jugendliche wird in einem gerichtlichen oder gerichts-ähnlichen Verfahren als Rechtssubjekt verstanden, dem gleichartige Rechte zustehen wie einem Erwachsenen. Angestrebt wird Gerechtigkeit durch ein faires Verfahren. Das Justizmodell kommt zur Anwendung, wenn schwere Sanktionen angeordnet werden.
Umstritten ist das Mittelfeld Umstritten ist, welches Modell im Mittelfeld der Sanktionen (kürzere Freiheitsstrafen, ambulante Massnahmen) vorherrschen soll. In der Tradition der schweizerischen Jugendstrafrechtspflege findet im Mittelfeld das Erziehungsmodell Anwendung. Dagegen sollte nach den von den Menschenrechten geprägten internationalen Standards das Justiz-modell schon im Mittelfeld zum Zug kommen, d.h. überall dort, wo es um Sanktionen mit Eingriffscharakter geht.
Modelle sind Idealtypen Auch wenn sie am richtigen Ort eingesetzt werden, müssen beide Modelle nicht in reiner Form durchgeführt werden. So soll auch ein rechts-staatliches Modell jugendgerecht ausgestaltet sein. Entsprechend verlangt Art.40 KRK aus-drücklich Sonderregeln für das Jugendverfahren. Umgekehrt müssen auch im Erziehungsmodell Mindestrechte verwirklicht sein, z.B. Verteidi-gung und Rechtsmittel.
Jugendverfahren ist ein Strafverfahren Zum Schutz der Betroffenen müssen auch im Jugendverfahren der staatlichen Eingriffs-ermächtigung Grenzen gesetzt werden. Trotz der erzieherischen Ausrichtung ist das Jugend-verfahren ein Strafverfahren, kein Jugendschutz-verfahren, kein Jugendfürsorgeverfahren. Vom 15. Altersjahr an werden Sanktionen ange-ordnet, die der Bewährung der Rechtsordnung dienen und massive Eingriffe in die Entwicklung und in die Freiheit der Jugendlichen darstellen können.
Prinzipien des Strafverfahrens Der im Jugendstrafrecht wegweisende Erziehungs-gedanke darf nicht bewirken, dass die Errungen-schaften eines rechtsstaatlichen Verfahrens auf dem Altar eines wohl gemeinten pädagogischen Fürsorgedenkens geopfert werden. Die im Strafprozessrecht massgeblichen Prinzipien des Strafverfahrens, müssen deshalb weitgehend Anwendung finden, doch erfahren sie als Folge der spezialpräventiven Zielsetzung eine beson-dere Ausrichtung. Einige wichtige Prinzipien werden nachfolgend aus der speziellen Per-spektive des Jugendstrafverfahrens abgehandelt.
Opportunitätsprinzip Schon das materielle Recht ist durchdrungen von Oppor-tunitätsregeln. Deshalb muss dem Opportunitätsprinzip auch im Verfahrensrecht eine grosse Bedeutung zukom-men. Das Verfahren soll nie als Selbstzweck durchgeführt werden und in jeder Phase ein individuelles Vorgehen, Flexibili-tät und rasche Erledigung ermöglichen. Es soll sich auf das Notwendige beschränken. Auch wenn es erziehe-rische Ziele verfolgt, sollen die Eltern möglichst weit-gehend für die Erziehung verantwortlich bleiben.
Akkusations-/Inquisitionsprinzip Nach dem Akkusationsprinzip werden die Funktionen der Strafverfolgung und der richterlichen Beurteilung per-sonell und organisatorisch getrennt. Das Akkusationsprinzip und die damit verbundene Ein-führung der Staatsanwaltschaft gehen zurück auf die französische Revolution und gehören zu den wichtigsten Errungenschaften der im 19.Jahrhundert vollzogenen Prozessreform. Die Trennung von Strafverfolgung und richterlicher Beurteilung hat sich im Erwachsenen-Strafrecht weitgehend durchgesetzt. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass die erst im 20.Jahrhundert entstandenen Jugendstrafverfahren teilweise wieder zum Inquisitionsverfahren zurück-gekehrt sind.
Nur bei leichten Sanktionen gerechtfertigt Die aus dem Erziehungsgedanken abgeleiteten Gründe für ein inquisitorisches Verfahren über-zeugen nur dort, wo es sich um Übertretungs-verfahren oder um geringfügige Sanktionen mit Warncharakter handelt, also insbesondere beim Verweis, bei der persönlichen Leistung und bei Bussen. In diesem Bereich steht die erzieherische Grenz-ziehung im Vordergrund, das Schutzbedürfnis des Jugendlichen verlangt nicht zwingend nach einer zusätzlichen Beurteilung durch ein unbe-fangenes Gericht.
Unparteiische Richter gefordert Jugendliche sollten, soweit es um Sanktionen mit Eingriffs-charakter geht, wie Erwachsene in einem fairen Ver-fahren ernst genommen und von einer unbefangenen richterlichen Instanz beurteilt werden. Die Kinderrechte-Konvention, garantiert in Art.40, Abs.2 das Recht, strafrechtliche Vorwürfe „durch eine zuständige Behörde oder ein zuständiges Gericht, die unabhängig und unparteiisch sind, in einem fairen Verfahren ... entscheiden zu lassen.“ Personen, die zuvor für die Strafuntersuchung verant-wortlich waren, wie das im Jugendrichtermodell der Fall ist, erfüllen diese Anforderung nicht. Das Inquisitions-prinzip ist im Bereich von einschneidenden Sanktionen nicht mehr zeitgemäss.
Eberhard Schmidt: „Wer den Ankläger zum Richter hat, braucht Gott zum Advokaten“
Ermittlungsprinzip Nach dem Ermittlungs- oder Instruktionsprinzip liegt die Beweislast bei den Behörden. Sie sind verpflichtet, objektiv den wahren Sachverhalt zu ermitteln und die Beweise zu sammeln, die zur Beurteilung erforderlich sind. Dabei haben sie belastende und entlastende Gesichtspunkte gleichermassen abzuklären. Wenn Zweifel an der Strafbarkeit bestehen, müssen diese zu Gunsten des Angeschuldigten gewertet werden (in dubio pro reo).
Unschuldsvermutung In einem engen Zusammenhang mit dem Ermittlungsprinzip steht die Unschulds-vermutung. Dass sie selbstverständlich auch im Jugendstrafrecht gilt, ergibt sich insbesondere aus der Kinderrechtskon-vention, Art.40.
Rechtliches Gehör Der Anspruch auf rechtliches Gehör stellt sicher, dass die Beschuldigten sich am Strafverfahren beteiligen, sich verteidigen, ihre Rechte wahr-nehmen können. Er soll verhindern, dass die Betroffenen zum blossen Objekt werden. Das rechtliche Gehör umfasst den Anspruch auf volle Information, das Recht sich zu äussern, die Möglichkeit, an Beweiserhebungen teilzuneh-men, das Recht, Beweisanträge zu stellen, und das Recht auf Akteneinsicht. Mit dem Anspruch auf Verteidigung wird abgesichert, dass der Grundsatz der Waffengleichheit gewahrt wird.
Strafbefehl ohne zwingende Einvernahme Problematisch ist im Hinblick auf das rechtliche Gehör, dass das Strafbefehlsverfahren als einzige Erledigungsart für alle Verfahren vorgesehen ist, die nach Art.32 JStPO in die richterliche Zu-ständigkeit der Untersuchungsbehörde fallen. Damit werden sogar Freiheitsstrafen und Schutz-massnahmen per Strafbefehl verhängt, und das sogar ohne zwingend vorgeschriebene Einver-nahme.
Fair Trial Der Grundsatz von Fair Trial wird aus EMRK 6 Zff.1 abgeleitet. Er ist in der Bundesverfassung in Art.29 Abs.1 ausdrücklich geregelt. Er garantiert den Verfahrensbetroffenen eine gleiche und gerechte Behandlung. Er verlangt von den Strafverfol-gungsbehörden, das Strafverfahren fair, korrekt und sachlich zu führen, die Würde der Angeschuldigten zu wahren und ihre Privatsphäre zu schonen. Die Behörden haben die Verfahrensbeteiligten über ihre Rechte aufzuklären und ihnen im Sinne der sog. Waffen-gleichheit zu ermöglichen, diese Rechte wahrzunehmen.
Beschleunigungsgrundsatz Der Beschleunigungsgrundsatz verpflichtet alle Behörden der Strafrechtspflege, die Straf-verfahren ohne Verzug einzuleiten und zu Ende zu führen. Im Jugendstrafrecht hat der Grundsatz ein noch grösseres Gewicht. Jugendliche können keinen Zusammenhang mit ihrem Verhalten mehr herstellen, wenn die Reaktion verspätet eintritt. Die Sanktion sollte deshalb möglichst unmittel-bar auf die Tat folgen, wenn sie eine präventive Wirkung haben soll.
Die SchweizerischeJugendstrafprozessordnung . vom 20.März 2009
Schweizerische Jugendstrafprozessordnung Die JStPO regelt das Verfahren zur Beurteilung der im JStG geregelten Sanktionen und ersetzt gleichzeitig die dort ursprünglich enthalten gewesenen Verfahrens- und Vollzugsregeln. Mit der JStPO wird das Verfahrensrecht erstmals einheitlich im Bund geregelt. Kantonal bleibt die Behördenorganisation (Jugendanwaltsmodell in der Deutschschweiz, Jugendrichtermodell in der übrigen Schweiz) Die JStPO ist lex specialis, sie ist gekoppelt an die für die Erwachsenen geltende StPO, die gleich-zeitig in Kraft getreten ist.
Verhältnis zur StPO Umgekehrt als beim JStG, wo Art.1 eine abschlies-sende Liste der anwendbaren Bestimmungen aus dem StGB formuliert, sind alle Regeln der Erwachsenen-StPO vom 5.10.2007 sinngemäss anwendbar, soweit die JStPO keine besondern Bestimmungen enthält. Dank dieser ergänzenden Geltung konnte die JStPO als schlankes Gesetz mit nur 54 Artikeln formu-liert werden, doch ist dieser Vorteil teuer erkauft, weil die Rechtslage mit der gleichzeitigen An-wendbarkeit von JStPO, StPO und kantonalen Gesetzen ausgesprochen unübersichtlich ist.
Zweck Wie jede Verfahrensordnung verfolgt die JStPO den Zweck, dass sich die Ziel-setzungen und Grundsätze des materiellen Rechts auch im Verfahren entfalten sollen. Zudem wird mit der JStPO angestrebt, die im internationalen Recht vorgegebenen Min-destnormen zu erfüllen.
Entstehungsgeschichte Mit der Botschaft vom 21.12.05 wurde ein Entwurf vorgelegt, der auf breite Ablehnung stiess. Der Ständerat wies ihn zurück. Am 22.8.07 präsentierte der Bundesrat einen Ent-wurf „mit Änderungen“ (eigentlich einen neuen Entwurf). Dieser passierte die Beratung in den Räten ohne grundsätzliche Korrekturen. Streit-punkte waren die Beschleunigung und die in Art.13 vorgesehene Vertrauensperson. Die JStPO wurde am 20.3.09 verabschiedet und am 1.1.2011 in Kraft gesetzt.
Gliederung der JStPO 1. Gegenstand und Grundsätze Art.1-5 2. Jugendstrafbehörden Art.6-8 3. Allgemeine Verfahrensregeln Art.9-17 4. Parteien und Verteidigung Art.18-25 5. Zwangsmittel, Schutzmassnahmen, Beobachtungen Art.26-29 6. Verfahren (Untersuchung, Strafbefehl, Anklage, Hauptverhandlung) Art.30-37 7. Rechtsmittel Art.38-41 8. Vollzug von Sanktionen Art.42-43 9. Kosten Art.44-45 10. Schlussbestimmungen Art.46-54 Gesetzesbestimmungen sind nachfolgend kursiv gesetzt.
Grundsätze Art.4 Der Hauptgrundsatz (Abs.1) entspricht Art.2 JStG: Für die Anwendung dieses Gesetzes sind der Schutz und die Erziehung der Jugendlichen wegleitend. Weitere Grundsätze: • Entwicklungsstand und Persönlichkeitsrechte beachten • Verfahrensbeteiligung, Anhörung (mit Vorbehalt) • Eingriffe möglichst schonend • Einbezug von gesetzlicher Vertretung und VB Allgemeines Prinzip: Erziehungsmodell bei leichten, Justizmodell bei einschneidenden Sanktionen
Beschleunigungsgrundsatz Art.5 StPO Leider konnte sich der Nationalrat nicht auf ein gegenüber dem Erwachsenenverfahren ver-schärftes Beschleunigungsgebot einigen, das als Art.4, Abs.5 hätte formuliert werden sollen. Der allgemeine Beschleunigungsgrundsatz gemäss Art.5 der StPO gilt aber auch im Jugendstraf-verfahren: Die Strafbehörden nehmen die Strafverfahren unverzüglich an die Hand und bringen sie ohne Verzögerung zum Abschluss. Befindet sich eine beschuldigte Person in Haft, so wird ihr Verfahren vordringlich durchgeführt.
Verzicht auf Strafverfolgung Art.5 Absehen von der Strafverfolgung: Wenn Strafbefreiungsgründe nach Art.21 JStG vorliegen (entspricht Art.7 aJStG) Wenn ein Vergleich oder eine Mediation erfolg-reich abgeschlossen wurden (entspricht Art.8 aJStG) Wenn Gründe gemäss Art.8 (Erw-)StPO vorliegen (Opportunität): StGB 52-54, vor allem im Fall von geringfügigen Zusatzstrafen
Strafverfolgungsbehörden Art.6 Strafverfolgungsbehörden sind: • die Polizei; • die Untersuchungsbehörde; • die Jugendstaatsanwaltschaft, sofern der Kanton eine solche Behörde vorsehen muss (betrifft nur Jugendrichtermodell). Neu ist der Begriff „Untersuchungsbehörde“ für Jugendanwalt/in oder Jugendrichter/in. Damit wurde es möglich, die beiden Modelle gleich-berechtigt auszugestalten (der frühere Entwurf hatte auf dem Jugendrichtermodell aufgebaut).
Untersuchungsbehörde, Art.6 Abs.2 Die Kantone bezeichnen als Untersuchungsbehörde: a. eine oder mehrere Jugendrichterinnen oder einen oder mehrere Jugendrichter; oder b. eine oder mehrere Jugendanwältinnen oder einen oder mehrere Jugendanwälte. Die Jugendrichterinnen und Jugendrichter sind Mitglieder des Jugendgerichts. Die Jugendanwältinnen und Jugendanwälte vertreten vor dem Jugendgericht die Anklage.
Gerichte Art.7 Gerichtliche Befugnisse im Jugendstrafverfahren haben: a. das Zwangsmassnahmengericht; b. das Jugendgericht; c. die Beschwerdeinstanz in Jugendstrafsachen; d. die Berufungsinstanz in Jugendstrafsachen. Das Jugendgericht setzt sich zusammen aus dem Präsidenten oder der Präsidentin und zwei Beisitzerinnen oder Beisitzern.
Organisation Art.8 Die Kantone regeln Wahl, Zusammen-setzung, Organisation, Aufsicht und Befugnisse der Jugendstrafbehörden ... Die Kantone können interkantonal zustän-dige Jugendstrafbehörden vorsehen.
Verfahrensregeln: Ablehnung Art.9 Die oder der urteilsfähige beschuldigte Jugendliche und die gesetzliche Vertretung können ...... verlangen, dass die Jugendrichterin oder der Jugendrichter, die oder der bereits die Untersuchung geführt hat, im Hauptverfahren nicht mitwirkt. Die Ablehnung bedarf keiner Begründung. Diese Bestimmung bezieht sich ausschliess-lich auf das Jugendrichtermodell. Mit ihr wird angestrebt, das Recht auf unbefange-ne und unabhängige Richter umzusetzen.
Genügt die Ablehnungslösung? Die Möglichkeit der Ablehnung trägt den Interessen der Jugendlichen Rechnung (zumindest wenn sie verteidigt sind). Laut Trechsel dient der Grundsatz des unbefangenen Richters aber nicht nur dem Parteiinteresse, vielmehr handle es sich um ein öffentliches Interesse, indem schon der Anschein von Befangenheit vermieden werden sollte. Riedo bezweifelt, ob die Ablehnungslösung vor dem EGMR Bestand haben werde, weil Art.6 EMRK ohne Einschrän-kung auch für Jugendliche gelte. Jositsch/Murer erachten die Garantie der unbefangenen Richter als „wahrscheinlich unverzichtbar“; wenn schon, müsste der Verzicht ausdrücklich, nicht implizit erfolgen.
Örtliche Zuständigkeit Art.10 Die Bestimmung ersetzt Art.38 aJStG. Für die Verfolgung von Verbrechen und Ver-gehen ist die Behörde am Ort des gewöhn-lichen Aufenthalts (in der Regel Wohnsitz) zuständig. Übertretungen werden am Ort der Begehung verfolgt, ausser wenn Schutzmassnahmen in Betracht kommen.
Mitwirkung der gesetzl.Vertretung Art.12 Die Eltern haben mitzuwirken, wenn die Behörde dies anordnet. Eine Verweigerung kann mit einer Anzeige an die Kinds-schutzbehörde oder mit einer Ordnungs-busse bis 1‘000 Franken geahndet werden. Kritisch zur Elternbusse Murer Mikolásek/ Analyse S.187 ff. Zudem können Eltern laut Art.44 auch für die Verfahrenskosten als solidarisch haft-bar erklärt werden.
Vertrauensperson Art.13 Die oder der beschuldigte Jugendliche kann in allen Verfahrensstadien eine Vertrauensperson beiziehen, sofern die Interessen der Untersuchung oder über-wiegende private Interessen einem solchen Beizug nicht entgegenstehen. Über diese Bestimmung bestand in den Eidg.Räten die letzte Differenz. Die Vertrauensperson soll dem Jugendlichen den Rücken stärken und ihm helfen, das Verfahren besser zu verstehen. Sie darf aber nicht intervenieren. Das inter-nationale Recht verlangt eigentlich nur Begleitung durch Anwalt, Eltern oder Vertrauensperson. Murer Mikolásek/Analyse 192 ff.: Eltern und Unmündige seien generell ausgeschlossen.
Rolle der Vertrauensperson Die Vertrauensperson kann den Jugendlichen begleiten und bei Einvernahmen anwesend sein, darf aber nicht inter-venieren. Sie soll dem Jugendlichen den Rücken stärken und ihm helfen, das Verfahren besser zu verstehen. Sie hat weder Rechte noch Pflichten und benötigt keine spezielle Ausbildung. Der Beizug kann wegen überwiegenden privaten Interessen, insbesondere von Opferseite, wegen eines störenden Ver-haltens sowie im Interesse der Untersuchung ausge-schlossen werden, z.B. wegen Kollusionsgefahr oder weil die Person als Zeuge auftreten soll. Ein Ausschluss kann auch in Betracht kommen, wenn der Verdacht besteht, die Person sei von der Familie eingesetzt, um den Jugendlichen zu bespitzeln. Damit allfällige Ausschlussgründe geprüft werden können, muss die Person rechtzeitig bezeichnet werden.
Öffentlichkeit Art.14 Das Strafverfahren findet unter Ausschluss der Öffent-lichkeit statt. Die Untersuchungsbehörde und die Gerichte können die Öffentlichkeit in geeigneter Weise über den Stand des Verfahrens informieren. Das Jugendgericht und die Berufungsinstanz können eine öffentliche Verhandlung anordnen, wenn: a. die oder der urteilsfähige beschuldigte Jugendliche oder die gesetzliche Vertretung dies verlangt oder das öffentliche Interesse es gebietet; und b. dies den Interessen der oder des beschuldigten Jugendlichen nicht zuwiderläuft. Die Berechtigten müssten über dieses Recht informiert werden, in der Praxis geschieht das nicht immer.
Mehr Information wäre sinnvoll Art.6 EMRK verlangt die Öffentlichkeit grund-sätzlich auch im Jugendstrafverfahren, lässt aber Ausnahmen im Interesse der Jugendlichen zu. Der Ausschluss der Öffentlichkeit dürfte als Grundsatz richtig sein. Doch sollten die Gerichte die Öffentlichkeit vermehrt zulassen oder auf andere Weise informieren, um den verbreiteten Fehlinformationen und Vorurteilen über das Jugendstrafrecht besser entgegenwirken zu können.
Informationen an Erziehungsverantwortliche? Eine Lücke besteht bezüglich der Weitergabe von Infor-mationen, auf die verantwortliche Institutionen oder Personen für die Erfüllung eines Erziehungsauftrags und zur Beurteilung von Risiken angewiesen sind, z.B. Schulen, Pflegeeltern, Erziehungsheime. Eine umfassende Information ist nicht sinnvoll, doch sollten Erziehungsverantwortliche über wichtige Sachverhalte informiert werden können. Art.74 StPO regelt nur die Orientierung der Öffentlichkeit, Art.75 StPO bloss die Mitteilung an Behörden. Laut Art.75 Abs.4 können die Kantone Mitteilungen an weitere Behörden als die in Abs.1-3 erwähnten vorsehen, nicht aber an Private. Lit. Masterarbeit von Rebekka Mattli
Mediation Art.17 Die Untersuchungsbehörde und die Gerichte können das Verfahren jederzeit sistieren und eine auf dem Gebiet der Mediation geeignete Organisation oder Person mit der Durchführung eines Mediationsverfahrens beauftragen, wenn: a. Schutzmassnahmen nicht notwendig sind oder die Be-hörde des Zivilrechts bereits geeignete Massnahmen angeordnet hat; b. die Voraussetzungen von Artikel 21 Absatz 1 JStG nicht erfüllt sind. Gelingt die Mediation, so wird das Verfahren eingestellt. Deckt sich weitgehend mit Art.8 aJStG.
Was ist Mediation? Strafrechtliche Mediation, in Deutschland Täter-Opfer-Aus-gleich (TOA), in Österreich Ausser-gerichtlicher Tataus-gleich (ATA) genannt, ist ein Mediations-Verfahren, in dem unter Anleitung durch eine speziell ausgebildete Fachperson der zugrunde liegende Konflikt zwischen Täter und Opfer bearbeitet wird. Sowohl die Täter und deren gesetzliche Vertretung als auch die Opfer müssen zustimmen. Letztere verweigern nicht selten die Zustimmung. Gelingt der Ausgleich (z.B. durch eine Entschuldigung und eine Wiedergutmachungsleistung), und erklärt sich das Opfer in einer Vereinbarung als befriedigt, wird das Strafverfahren eingestellt. Andernfalls wird es wieder aufgenommen und zu Ende geführt.
Mediation meist im Untersuchungsverfahren Sowohl die Untersuchungsbehörde als auch die Gerichte können das Verfahren sistieren und eine geeignete Person oder Organisation mit der Mediation beauftragen. Gelingt die Mediation, wird das Verfahren definitiv eingestellt. Allerdings kommt die Mediation im gerichtlichen Verfahren selten vor, weil die Mediation sinnvoller Weise bereits im Untersuchungsverfahren angestrebt wird. Doch kann es sein, dass die Untersuchungsbehörde die Situation anders eingeschätzt hat, oder dass Hinderungsgründe (z.B. die fehlende Bereitschaft der Jugendlichen, der Eltern oder der Geschädigten) nachträglich weggefallen sind. Deshalb muss auch im gerichtlichen Verfahren noch die Möglichkeit bestehen, die Mediation einzuleiten.
Tatumstände müssen geklärt sein Die ursprünglich in Art.8 Abs.1 lit.c aJStG enthal-tene Umschreibung sah die Klärung der Tat-umstände ausdrücklich vor. In Art.17 JStPO ist sie nicht mehr genannt, doch gilt sie als imma-nente Voraussetzung auch weiterhin. Insbesondere muss eine grundsätzliche Aner-kennung des Sachverhaltsdurch den Beschul-digten vorliegen. Ein Geständnis im prozessualen Sinn darf jedoch nicht verlangt werden, da sonst das Verbot der Selbstbezichtigung und damit die Unschuldsvermutung verletzt würde.
Blosse Kann-Vorschrift Leider ist die Mediation nur als fakultative Möglichkeit vorgesehen. Damit sie umfassend und gleichmässig zum Tragen kommen kann, wäre ein doppeltes Obligatorium nötig, indem die zuständigen Behörden verpflichtet wären, alle Ver-fahren auf ihre Eignung zu prüfen und gegebenenfalls die Mediation anzuordnen.
Praxis in den Kantonen Mediation wird vor allem in Zürich häufig angewendet. Von 213 im Verlauf von vier Jahren erledigten Fällen endeten über 95% mit einer Einigung. Pro Fall wurden durch-schnittlich 1,5 Mediations-Sitzungen benötigt. Die fest angestellte Mediatorin wendete nach eigenen Angaben durchschnittlich 11 Stunden für eine Mediation auf, was 618 Franken Lohnkosten entspreche. Die Kosten waren somit nicht höher, als sie im Fall der Fortführung des Strafverfahrens gewesen wären. Noch intensiver angewendet wird Mediation im Kanton Freiburg (156 Fälle in drei Jahren), etwas weniger oft in den Kantonen Genf, Wallis, Aargau, Basel-Land und Basel-Stadt. Information: Website des Dachverbands Mediation.